Virtual Tours - Page 2

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auf und drehte sich zu ihren Kunden um.
„Das hier ist deine Kabine“, sagte sie lapidar, an Jürgen gerichtet. „Geh ruhig schon mal rein, aber bitte nichts anfassen, du kriegst gleich von mir eine Einweisung, okay?“
Jürgen war etwas irritiert.
„Nur ich?“, fragte er. „Können wir beide nicht zusammen ... ?“
„Nein“, sagte Jenny knapp. „In einem einzigen Raum würdet ihr nur ineinander reinlaufen. Eure VR-Touren sind ähnlich vom Skript her, aber nicht identisch. Ihr bestimmt, was passieren soll. Klar?“
Jürgen nickte ergeben.
„Klar“, sagte er mit schwacher Stimme und warf Agnes einen letzten Blick zu.
„Wird schon, Jürgen“, sagte Agnes. „Ich seh’ dich später.“
Sie gaben sich einen flüchtigen Kuss auf den Mund, dann verschwand Agnes mit Jenny und die Tür fiel ins Schloss.

Jürgen sah sich den Raum an. Er maß ungefähr vier mal fünf Meter und war ebenfalls nur spärlich möbliert. Es gab einen an die Wand gestellten Schreibtisch mit einem Bürosessel davor, es lag aber nichts darauf. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein einfaches Bett, der Rahmen war aus Leichtmetall. Das dünne Laken und das schmale Kopfkissen auf der Matratze ließen Jürgen an eine Gefängniszelle denken.
„Really real, das alles“, murmelte Jürgen.
Das interessanteste Möbelstück war eine Schaufensterpuppe, die mittig im Raum stand. Sie hatte ungefähr Jürgens Größe und trug einen hautfarbenen Ganzkörperanzug, auf dem vorne an entscheidenden Stellen kleine, metallene Kappen mit Eisennoppen angebracht waren. Als Jürgen ein paar Schritte in den Raum hineinging, sah er, dass die Puppe einen erigierten Penis mit einer Art übergestreiftem ‚Kondom’ hatte. Auch auf diesem ‚Kondom’ befanden sich drei kleine Metallkappen mit Eisennoppen. Links neben der Puppe, auf einer Art Kleiderständer, hingen etliche Kabel mit Krokodilklemmen in verschiedenen Farben. Die Kabel endeten alle in einer rundlichen, handtellergroßen Box. An der Box waren breite Gummibänder fixiert. Unten am Kleiderständer war ein großer, silberner Kasten installiert. Auf dem Kasten lag eine überdimensional große Sonnenbrille ohne sichtbaren Kabelanschluss.

Jürgen stand eine Weile unschlüssig im Raum. Irgendwie war ihm die ganze Sache nicht geheuer, aber er wollte auch kein Spielverderber sein. Er hatte das Gefühl, dass Agnes die ganze Sache wichtig war. Und er wollte auch sein prüdes Gemüt, ‚seine katholisch verbrämte Libido’, wie Agnes es genannt hatte, überwinden. Sein, nein, ihr Sexleben auf Vordermann bringen, das war das erklärte Ziel.
Die Klinke sauste herunter und Jenny kam herein.
„So, da bin ich wieder. Deine Frau ist schon zugange“, meinte sie grinsend.
Jürgen schwieg und blieb, wo er war.
„Also“, fuhr Jenny fort und holte tief Luft. „Du hast bestimmt schon den Ganzkörperanzug bemerkt. Den musst du gleich anziehen. Wir benutzen übrigens für jeden Kunden einen neuen, quasi maßgeschneiderten Anzug. Du musst dir also keine Sorgen um Hygiene machen. Das läuft bei uns alles ganz sauber ab. Jedenfalls, du ziehst das Ding gleich an und dann verbinde ich dich, beziehungsweise deinen Anzug mit den Kabeln. Die Kabel senden minimale elektrische Signale oder Stöße aus. So simulieren wir Berührungen. Die Kabelbox funktioniert über Funk. Die schnallen wir dir mithilfe der Gummibänder auf den Rücken, dann hast du relative Bewegungsfreiheit. Beim Hinsetzen am besten nicht anlehnen, okay? Der Kasten da unten verfügt über ein olfaktorisches System, der kann also Geruchsmuster abgeben, die die Location untermalen, zum Beispiel bei Szenen am Meer, in der Innenstadt, im Restaurant oder im Hotelzimmer. Außerdem haben wir natürlich noch die VR-Brille, die projiziert das jeweilige setting auf deine Netzhaut. Der Rest erklärt sich eigentlich von selbst. In den meisten Szenarien kannst du stehen, ein bisschen gehen und sitzen, mehr nicht, okay? Wenn ihr dann im Hotelzimmer seid, zum Finale quasi, kannst du dich am freiesten bewegen. Dann entsprechen die Maße eures Hotelzimmers und die Möbel darin mehr oder weniger diesem Zimmer hier. Aber bitte nicht auf den Rücken legen, wegen der Kabelbox. Alles klar? Fragen?“
Jürgen, der nur die Hälfte verstanden hatte, konnte keinen klaren Gedanken fassen, von der Formulierung einer Frage ganz zu schweigen.
„Nein.“
„Gut, dann helfe ich dir jetzt in den Anzug.“
Jürgen glaubte, sich verhört zu haben. Ihm in den Anzug helfen? Dafür musste er sich doch ausziehen, oder nicht? Sollte er das einfach so tun, hier, vor ihr?
Eine gefühlte Ewigkeit passierte nichts. Jenny stand schweigend und wartend da, Jürgen ebenso. Dann gab Jürgen sich einen Ruck. Er überwand seine katholische Scham und entkleidete sich.
Jenny, in ihrer routinierten Professionalität, machte ihm die Sache einerseits leichter. Sie würdigte seinen immer noch rüstigen Körper, wie Jürgen fand, keines Blickes und half ihm in den Anzug wie eine Mutter ihrem Kind in die Badehose. Andrerseits machte sie es ihm auch schwerer, denn dass er mit seinem nackten Körper so gar nichts bei ihr auslöste, frustrierte ihn ebenso. Er war doch trotz allem noch ein Mann.
„So, sitzt alles?“, fragte Jenny, als sie fertig waren.
„Ja, ich denke“, erwiderte Jürgen und kam sich in seinem Anzug ziemlich dämlich vor.
„Gut, dann stöpsel ich den Anzug mal ein.“
In Windeseile brachte Jenny die zahllosen Krokodilklemmen am Ganzkörperanzug an, fixierte die Kabelbox auf Jürgens Rücken und drückte ein paar Knöpfe auf dem großen, silbernen Kasten.
„So, und jetzt noch die VR-Brille.“
Jenny nahm die übergroße Sonnenbrille vom Kasten und setzte sie Jürgen behutsam auf die Nase.
„Du siehst jetzt erst mal nix. Ich muss das Programm vom Büro aus starten. Falls irgendwas nicht läuft, einfach Bescheid sagen, ich bin über ein Mikro mit dir verbunden. Okay?“
„Okay.“
„Ich dimme das Licht im Raum ein bisschen, dann dringt nichts durch, okay?“
„Ja.“
„Viel Spaß dann!“
„Danke.“

Jürgen hörte, wie Jenny den Raum verließ. Um ihn herum herrschte absolute Dunkelheit. Er hörte das leise, elektronische Surren des Kastens unter ihm und wartete gebannt auf das erste Bild. Als es plötzlich pffft, pfft, pfft machte, und Jürgen der Geruch von Salz, Algen und Zitrone in die Nase stieg, tauchte vor ihm das erste Bild auf.

Jürgen stand an einem Hafen, sein Blick war auf das Wasser gerichtet. Kleine, bunte Holzboote lagen vor Anker, einige mit Motor, einige nur mit Rudern ausgestattet. Das Wasser schwappte sanft auf und ab. Am Horizont, auf der anderen Seite des Sees, tat sich im gleißenden Sonnenlicht die Silhouette eines begrünten Berges auf. Um Jürgen herum waren die Geräusche von Menschen, eine echte Sprache konnte er dem Gebrabbel aber nicht zuordnen. Als er

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