Tirzas Besuch

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von Ekkehard Walter

Sie war tatsächlich gekommen und jetzt stand sie in vorderster Reihe unter den vielen Besuchern des alten jüdischen Friedhofes der kleinen Hochrheingemeinde. So viele jüdische Frauen und auch Männer unter den Besuchern hatte dieses einstmals sogar als Judendorf bekannte Örtchen direkt an der schweizerischen Grenze gelegen,schon lange nicht mehr gesehen.
Einmal im Jahr, meist in der ersten Septemberwoche, kurz vor dem jüdischen Rosh Hashana (Neujahr) traf man sich dort jeweils zu den Selichot-Gebeten und gedachte hierbei auch den verstorbenen Angehörigen, die teilweise auch hier begraben waren.
Tirza war die zweitjüngste Tochter des letzten Rabbiners dieses Ortes gewesen, der am Tag der Reichspogromnacht aus der Synagoge heraus von Nazischergen verhaftet und ins KZ Dachau deportiert worden war. Ihr Vater, Mordechai, genannt Markus, hatte die damalige Haftzeit in Dachau wegen Verweigerung der nicht koscheren Speisen nicht überlebt und verstarb kurz vor seiner eigentlichen Entlassung nach einem stundenlangen Antrittsappell an Entkräftung und Auszehrung.
Das Tirza, seine Tochter, nun gerade hier anwesend war, war deshalb mehr als eine bloße deutsch-israelische Begegnung.Sie hätte allen Grund gehabt, in ihrer neuen Heimat Tel Aviv zu bleiben und diese Einladung zum Jahrestag zu ignorieren,nach allem was in der Vergangenheit geschehen war. Doch sie war gerne dieser Einladung gefolgt und wollte damit zugleich auch ein Zeichen setzen, wie sie mir erklärte, ein Zeichen der Aussöhnung, nicht aber des Vergessens. Die Erinnerung an die Shoah sei allgegenwärtig, so berichtete sie mir, als wir anschließend im jüdischen Museum zusammen sassen.
Dennoch hegt sie keinen Hass, sondern ist im Gegenteil sogar daran interessiert, die Nachkommen und Enkel jenes deutschen Volkes, dass das ihrige Volk der Juden so sehr quälte und verfolgte, aufzuklären und ihnen vorurteilsfrei zu begegnen.
Tirzas Besuch hat tiefe Eindrücke hinterlassen, nicht nur bei mir.

Die Geschichte der Gailinger Juden bewegt mich bis heute, da dieses Dorf nur etwa 20 Minuten Fahrzeit von uns entfernt ist. Gailingen stellte im 19. Jahrhundert mit Leopold "Hirsch" Guggenheim sogar einmal einen jüdischen Bürgermeister, der von der Mehrheit des gesamten Volkes frei gewählt war und dabei auch genügend Stimmen von Nichtjuden erhielt.Umso unverständlicher ist deshalb die darauf
folgende Entwicklung bis hin zur Verfolgung und Ermordung sämtlicher noch verbliebener Juden in Gailingen unter der Naziherrschaft und die Sprengung der Synagoge in der sogenannten "Reichskristallnacht".

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