Eine prä-coronale Geschichte: 1001 Arztbesuche oder Sindbads unheimliche Reise - Page 4

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wissen, verwundertste aller verwunderten Lauscher unepischer Geschichten, dass einstmals mit dem ‚alten, weißen Mann‘ skrupellose, mächtige Männer mit einem gewissen Alter in Führungspositionen bezeichnet wurden. Aber viele der unwissenden Bewohner Absurdistans titulierten in ihrer Unbedarftheit bedürftige Ruheständler, die sich für ihre schäbigen Renten krumm und bucklig geschuftet hatten, mit diesem Ausdruck. Da ebenso viele Einwohner dieses merkwürdigen Landes nicht eben mit übergroßer Zivilcourage gesegnet waren, konnten sie bequem ihr Mütchen an dieser recht wehrlosen Gruppe kühlen.
Mit äußerstem Erstaunen betrachtete Sindbad, den man trotz seines hellen Teints bisher eher selten mit einem Eingeborenen verwechselte, die politisch korrekte Sprechstundenhilfe an.
‚Äh, ich stamme aus Basra!‘
‚Ach tatsächlich! Mich interessiert es nicht, aus welchem oberbayrischen Kaff Sie kommen.‘
Da Sindbad sich durchaus bewusst war, dass die Ignoranz in ihrem Lauf weder Ratio noch Logik aufhalten konnten, zog er es vor, sich mit diesem Punkt nicht weiter zu beschäftigen.
‚Was immer Sie meinen! Brauchen Sie jetzt noch mein Kärtchen?‘
‚Okay Boomer, vorlaut wie immer. Du kannst Dir meinetwegen Deine Karte in den A…‘
Ein dezentes Räuspern ihrer ehemaligen Konversationspartnerin unterbrach die sich anbahnende Raserei und ließ die krausige Sprechstundenhilfe in die gewohnt dümmlich zynische Routine zurückfallen.
‚Ach was solls, die sind ja alle so! Nein, wir benötigen Ihr armseliges Kärtchen vorerst nicht! Wir haben ja Ihren Namen und wenn wir Sie wirklich aufrufen sollten, erledigen wir dann die sonstigen Formalitäten. Begeben Sie sich jetzt in den Wartebereich und bleiben Sie da! Eines noch: Ihresgleichen ist eine Toilettenbenutzung wegen der Hygiene nicht gestattet!‘
Durch solch freundliche Behandlung animiert, bewegte sich das falsch eingeordnete Objekt gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in einem rekordverdächtigen Tempo Richtung Wartezimmer, dessen Bezeichnung unübersehbar in güldenen Lettern am Eingang desselbigen prangte. Mit einer für sein Handicap außerordentlichen Geschicklichkeit öffnete Sindbad die Zimmertür und blickte erstaunt in einen äußerst stilvoll eingerichteten Raum. Auch befand in dem prächtigen Zimmer nur ein gut gekleideter, mittelalterlicher Herr, der es sich in einem eleganten Ohrensessel bequem machte und den Eindringling mit verächtlicher Bösartigkeit ansah.
Derweil hatte sich die durch die Schnelligkeit des ‚alten, weißen Mannes‘ erstaunte Sprechstundenhilfe wieder gefangen und stürmte wie ein Zyklon durch das Arabische Meer in Richtung des Ereignisses, um Sindbad, der wie durch ein Wunder die Balance behielt, unsanft vom prächtigen Portal wegzuzerren.
‚Hey Boomer, da darfst Du aber nicht rein! Das ist das Wartezimmer für Privatpatienten, das für Kassenpatienten ist neben dem Pissoir! Ab jetzt! Herr Bormann, der unverschämte Kerl hat Sie doch nicht belästigt?‘
Während sich der Gemaßregelte sich entmutigt anschickte, wie Dhau bei Flaute seinen Kurs zu ändern, durfte er weiterhin der sich entspinnenden Konversation lauschen.
‚Es ist ein Skandal, dass Sie diese Ausländer nicht besser unter Kontrolle haben!‘
‚Ausländer?‘
Bormann schenkte der nun etwas verwirrten Frau Krause ein Lächeln von der Art, die eine intelligente Feministin vermutlich zu einem Tötungsdelikt motiviert hätte.
‚Zerbrechen Sie sich nicht Ihr hübsches Köpfchen, mein schönes Kind, das macht nur hässlich!‘
Das Ziel solch giftig billiger Komplimente kicherte geschmeichelt.
‚Ich muss aber jetzt mit Ihnen schimpfen, Fräuleinchen. Ich warte hier schon eine geschlagene Viertelstunde!‘
‚Oh, das müssen Sie entschuldigen, lieber Herr Bormann, ich bringe Sie sofort zum Doktor …‘
Derweil erreichte Sindbad das überfüllte, spärlich ausgestatte Ziel seiner Reise und durfte zu seiner ung-eteilten Freude dem Dialog nicht mehr lauschen. Die billigen Klappsitze waren zwar alle belegt, aber glücklicherweise fand er noch einen bequemen Stehplatz an der fleckigen Wand des Zimmers.
Nach zwei geschlagenen Stunden und der gleichen Anzahl von widerwilligen Patientenaufrufen gelang es dem geduldig Wartenden, sich auf einen der begehrten Plastiksitze zu manövrieren. Inzwischen hatte auch eine erkleckliche Anzahl von Insassen das Wartezimmer verlassen, um, bedingt durch die verbotenen Latrine, ihre Notdurft außerhalb der Praxis zu verrichten; einmal draußen wurde jenen Unglücklichen das Betreten des Vorzimmers zum Paradies ärztlicher Basisversorgung durch die politisch korrekte Sprechstundenhilfe fluchend verwehrt.
Glücklicherweise blieben solche Probleme Sindbad erspart, da sein liebevolles Eheweib es hasste, wenn er die gemeinschaftliche Toilette aufsuchte und seine Blase daher wohl trainiert war. Trotz dieser ‚Abgänge‘ leerte sich der Raum nicht wesentlich, da regelmäßig Neuankömmlinge die ‚Kammer des Schreckens‘ betraten.
So vergingen in der beschriebenen Weise weitere fünf Stunden bis eine merkwürdig heitere Frau Krause den Raum betrat.
‚Also Leute lasst euch sagen, dem Pack hat es jetzt 17:00 Uhr geschlagen!‘
Wie auf Kommando erhoben sich circa die Hälfte aller Patienten und verließen unter den gestrengen Augen Zeitansagerin, die jeglichen Kommentar mit einem drohenden Blick im Keim erstickte, Wartezimmer und Praxis. Nach diesem merkwürdigen Exodus kehrte auch die Aufseherin kichernd den Verbleibenden den Rücken.
Der leicht verwirrte Überquerer mancher Ozeane der Konfusion bedachte die Worte seines Vetters und handelte entsprechend.
‚Ah Sindbad, hat man Dir die Zeit verkündet?‘
‚Ja, aber aus irgendwelchen Gründen ist die Hälfte der Leute abgehauen.‘
‚Klar, die haben schon ihre Erfahrungen mit Dr. Ifrit, aber kümmere Dich nicht darum. Also ich bin in einer Stunde bei Dir, wir treffen uns dann unten.‘
Nachdem sein Cousin das Telefongespräch abrupt unterbrochen hatte, wartete der große Dulder noch eine gute Dreiviertelstunde, ohne dass es noch zu irgendwelchen Patientenaufrufen kam. Schließlich betrat die krausige Sprechstundenhilfe, mühsam ihre Heiterkeit unterdrückend, wiederum das bescheidene Wartezimmer.
‚So, für heute ist Schluss! Ihr dürft jetzt alle nach Hause gehen und meinetwegen morgen wiederkommen. Also raus jetzt!‘
Da, wie schon erwähnt, die personifizierte Barmherzigkeit einen fiesen Gorgonenblick draufhatte und die verbleibenden Insassen in nicht gerade guter, körperlicher Verfassung waren, hielt sich die Empörung der abgewiesenen Patienten in demütigen Grenzen. Sindbad hingegen, froh dieses Abenteuer ohne weitere Blessuren überstanden zu haben, beeilte sich dem Ruf der krausigen Sirene zu folgen.
*
So, mitleidigste aller mitleidenden Zuhörer, wiederfuhr es dem Befahrer unendlicher Ozeane menschlicher Finsternis. Mit Mühen gelang es ihm jene infernalischen Stockwerke bis zum Eingang des Plattenbaus zu überwinden, um einige Minuten später von seinem getreuen Vetter eingesammelt zu werden.
‚Aladdin, warum hast Du mir nicht gesagt, dass nach der Zeitansage nichts mehr läuft?‘
‚Um Dich nicht in Versuchung zu bringen! Ich weiß selber, wie unangenehm und übelriechend dieses Wartezimmer ist, und Du hättest trotz meiner Warnungen auf die Idee kommen können, lieber unten zu warten. Du musst wissen, die Gegend hier ist um diese Uhrzeit echt gefährlich; da bekommst Du locker wegen zehn Euro ein Messer zwischen die Rippen!‘
‚Also Aladdin, bei diesem Dr. Ifrit …‘
‚Brauchst Du mir nicht zu sagen, werter Sindbad! Ich weiß, was da abgeht. Aber zumindest bestand eine kleine Chance, dass Du behandelt wirst!‘
‚Und nun?‘
‚Tut mir echt leid, aber Deine Chancen standen sowieso nicht gut!‘
‚Aladdin, Du hattest noch eine dritte Praxis erwähnt?‘
‚Du willst doch nicht ernsthaft zu Hannes Schinder, dem Kopflosen? Das kann ich Dir wirklich nicht antun! Der Typ zieht Dir das Fell über die Ohren, bevor Du zwei Worte mit ihm gewechselt hast. Außerdem sind dessen Behandlungsmethoden gefährlich bis lebensbedrohlich!‘
‚Du kannst Dir nicht vorstellen, was Schahrasad mit mir anstellt, wenn ich es wage, unverrichteter Dinge zurückzukehren!‘
Mit einem verständnisvollen Blick barmherzigen Mitleids nickte der gute Vetter bedachtsam.
‚Also gut! Ich habe da vielleicht eine Idee, die funktionieren könnte! Gut, dass seine Geldgeilheit die Faulheit dieses Kerls übertrifft; der hat nämlich bis 20:00 Uhr geöffnet! Also dann zum alten Schinder Hannes!‘
So, oh sehnsuchtsvoll das Ende erwartendes Publikum, reisten die Gefährten mit dem eilfertigen Dschinn bis ans Ende ihrer kleinen Welt, das sich in Form eines Villenvorortes darstellte, um des ‚Kopflosen‘ schicke Behausung zu erreichen.
‚Da sind wir, guter Sindbad! Dieses Mal komme ich aber mit!‘
Schnell erreichten die Cousins massiven Eingang, einem Portal gefertigt aus edelstem Ebenholz, der kleinen, aber feinen Villa. Ein güldenes Schild verkündete ebenda: ‚Selbst diplomierter Professor der Heilkunst Hannes Schinder, Großmeister des hermetischen Ordens. Möge der solvente Kunde dreimal klingeln! Asis und Bettler seien gewarnt vor dem schröcklichen Cerberus, dem hungrigen Haushund!‘ Listig grinsend betätigte Aladdin die güldene Klingel, während sein vorsichtiger Vetter ihn zweifelnd ansah.
‚Was ist, wenn der seinen Hund auf uns loslässt?‘
‚Keine Sorge, für einen Köter oder sonstige Sicherheitsmaßnahmen ist der Typ viel zu knickrig. Lasst dich nicht täuschen, der Aufwand, den Du hier siehst, dient nur dazu, um den einfältigen Kunden einzuschüchtern. Dem kann man dann besser die Kohle aus der Tasche ziehen!‘
‚Wer da, was ist Euer Begehr zu solch unchristlicher Zeit.‘
Der Lampenhändler beugte sich leicht vor und gab seine Antwort in die altertümliche Gegensprechanlage, die sich oberhalb der Klingel befand.
‚Sesam öffne Dich!‘
‚Ah, das Passwort für Premiumkunden! Herzlich willkommen ihr Mühseligen und Beladenen, die ihr euch am Quell des heilsamen Reichtums laben wollt!‘
Nachdem sich die Tür öffnete drangen die Gefährten durch einen höhlenartigen Gang direkt bis zum prächtigen Behandlungszimmer des Schinder Hannes vor, um von dem daselbst enttäuscht gemustert zu werden.
‚Steht an der Tür nicht klar und deutlich, dass Penner unerwünscht sind. Könnt ihr überhaupt die 100 Euro Eintritt bezahlen?‘
Strahlend lächelnd wandte sich Aladdin seinem Cousin zu.
‚Sindbad, erledige Du das doch!‘
‚Aber Aladdin …‘
‚Hole einfach Deine Brieftasche hervor!‘
Verwirrt tat der große Dulder wie geheißen und kramte sein leeres Portemonnaie hervor, das allerdings durch allerlei nutzlose Quittungen und Einkaufszettel prall gefüllt aussah. In des großen Heilers Augen blitzte ein fast nagetierhaftes Glitzern.
‚Aber, aber, meine Herren! Den speziellen Eintritt für besonders wertvolle Kunden von 150 Euro dürfen Sie auch später bezahlen! Es war nur der äußere Eindruck, der mich stutzend gemacht hat!‘
‚Du kannst jetzt Deine Brieftasche einstecken, bester Sindbad. Professor Schinder, mein Vetter hat sich dummerweise den Fuß gebrochen, was können Sie mir denn empfehlen?‘
Das Glitzern steigerte sich nun zu einem habgierigen Funkeln!
‚Oh, ich habe da eine Biotranzendenzkur für wenige tausend Eurochen oder Geistheilung per Handauflegen zum Discountpreis von nur 10000, aber bitte in Gold oder Schweizer Franken. Da gibt es…‘
‚Das reicht, Schinder Hannes! Begreifst Du jetzt, Sindbad!‘
Der listenreiche Lampenverkäufer wandte sich nun eindringlich dem empört schnaufenden, hermetischen Großmeister zu.
‚So, Du Scharlatan, ich soll Dich von meinem Freund Ali Baba grüßen. Der fragt sich, ob er Dich vielleicht wieder besuchen soll? Weißt Du, ich kann ihm das ausreden. Es kommt dabei nur auf Dich an!‘
Zitternd fiel der räuberische Hermetiker förmlich in sich zusammen, wobei sein Gesicht die Farbe einer frisch gekalkten Wand annahm.
‚Die Herren haben mich missverstanden, natürlich ist das alles für Freunde von Herrn Baba gratis!‘
‚Allah ist mit den Bescheidenen und ich will auch nicht lange hier verweilen! Du hast doch maßgefertigte ‚Aircast Walker‘? Solltest Du jedenfalls haben, ansonsten wird wohl Ali ein ernstes Wort mit Dir reden müssen! Welche Schuhgröße hast Du Sindbad?‘
‚43!‘
‚Also dann Größe 43, bitte!‘
‚Kommt sofort, die Herren!‘
So motiviert tauchte der Schinder Hannes schon nach wenigen Minuten mit dem gewünschten Produkt – eine Art orthopädischem Stiefel für gebrochene Fußgelenke – auf.
‚Soll ich dem Herrn Sindbad den Aircast noch anlegen? Mache ich wirklich gerne!‘
Der zufriedene Lampenverkäufer schüttelte verneinend sein Haupt.
‚Nein danke, ich möchte nicht, dass sich mein Vetter den Fuß noch amputieren lassen muss. Das machen wir doch lieber selber! Komm Sindbad, es ist Zeit zu gehen!‘
Also verließen der weitgereiste Überwinder des Meeres der Ungewissheit und sein treuer Verwandter die Räuberhöhle und machten sich auf den wenig gefahrvollen Rückweg in bekannte Gewässer. Das getreulich, voller Ungeduld wartende Weib Sindbads vergab ihm zähneknirschend die lange Abwesenheit, da sie durch den Verkauf des Gatten Aircast mindestens einen halben Tag in der örtlichen Spielhalle ihrem zu Laster frönen gedachte; end well – all well.
So endet die fantastische und gefahrvolle Reise Sindbads des durch die stürmischen Ozeane des Gesundheitssystems Absurdistans. Möge Allah euch, wertes Publikum, vor derartigen Irrfahrten behüten.

Ein angenehmes Wochenende wünscht
JU

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Kommentare

29. Jan 2021

Frau Krause scheint kein Flaschen-Geist,
Da GEIST (s)ehr selten sie beweist ...

LG Axel

30. Jan 2021

Haha, erfrischend -
der Geist in der Flasche macht aus allen Flaschen Helden - auch mich gelegentlich...

LG Alf

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