Friedhelm

Bild von Dieter J Baumgart
Bibliothek

     Als Friedhelm auf die Welt kam, war er wohl ganze zweiundzwanzig Zentimeter lang. Das war nicht viel. Schon gar nicht im Vergleich zu seinem Vater, der es mit seinen vierundsechzig Jahren immerhin auf die stattliche Länge von vier Metern gebracht hatte. Und Friedhelms Mutter war sogar noch einen halben Meter länger. Sie war überhaupt die Schönste am ganzen Fluß. Ihre traumhafte Rückenzeichnung hatte sich längst bis in die Nebenflüsse herumgesprochen und erweckte auch bei denen, die sie noch nie gesehen hatten, Neid und Bewunderung. Und so hatte Friedhelm eigentlich alle Anlagen, auch einmal ein schönes, großes Krokodil zu werden.
     Doch das waren keine Vorstellungen, an die er auch nur einen Gedanken verschwendet hätte. Die Gegenwart, diese Welt voller Geheimnisse und Überraschungen, faszinierte, erschreckte und erfreute ihn immer wieder von neuem. So vergingen die Tage wie im Flug, und Friedhelm machte seinem Namen alle Ehre. Wenn die Sonne schien, lag er still auf seiner kleinen Lieblingssandbank und war mit sich und allem, was ihn umgab, zufrieden. Wenn der Magen knurrte, wuselte er mit seiner langen Schnauze unter dem Schilf am Rande seiner Sandbank, wo er Würmer und Käfer in Mengen fand. Er hatte, wie man so sagt, eine schöne Kindheit. Wobei auch nicht verschwiegen werden soll, daß seine Friedfertigkeit in den Augen der Verwandten gelegentlich schon als etwas übertrieben zur Kenntnis genommen wurde. Der Eindruck verstärkte sich, wenn sie Zeugen wurden, wie Friedhelm einen Käfer fraß, den er nach längerem Betrachten schon fast liebgewonnen hatte. Nicht selten zerdrückte er dann ein paar Krokodilstränen und murmelte eine leise Entschuldigung, bevor er zuschnappte. Denn natürlich mußte auch er von irgend etwas leben, und Grünzeug war nun einmal nicht sein Fall.
     Aus den Tagen wurden Monate und Jahre. Er wuchs heran und lernte, in Trocken- und Regenzeiten den Naturgewalten zu widerstehen, obwohl er sich doch manchmal als kleines Krokodil in den wirbelnden Wassermassen recht verlassen vorkam und angstvoll an den Wurzeln der Urwaldriesen Halt suchte. Doch mit fünf Jahren konnte er nicht nur die stolze Körperlänge von einhundertundachtzig Zentimetern vorweisen, unter seinen Altersgenossen war er auch einer der Stärksten und Schnellsten. Er kannte die Stellen im Fluß, wo es die fettesten Fische gab, und ihm gehörte die schönste Sandbank.
     Doch Friedhelm wußte auch, daß es Lebewesen gab, die waren mächtiger als er. Und vor denen war er auf der Hut. Manchmal kündigten sich diese Wesen durch ein stetes Klopfen an, das im Wasser weitaus eher zu spüren als an Land zu hören war. Und so waren es auch immer die Krokodile im Wasser, welche die anderen auf den Sandbänken warnten. Dann hieß es, die Augen offenzuhalten. Häufig kam dann nach einiger Zeit ein großer hölzerner Fisch den Fluß herauf, und aus seinem Bauch tönte das beunruhigende Klopfen. Auf dem Rücken dieses eigenartigen Fisches befanden sich Menschen. Und spätestens beim Anblick der Menschen gingen alle Krokodile auf Tauchstation. Manchmal, in stillen Sommernächten, kamen die Menschen jedoch ohne ihren Fisch, ganz leise vom Ufer her. Und dann waren sie am gefährlichsten.
     Friedhelm mochte die Menschen nicht. – Das kam aber wohl auch daher, weil man sich am Fluß wahre Schauergeschichten von ihnen erzählte. Angeblich sollten die Menschen die Krokodile gar nicht jagen, weil sie Hunger hatten, sondern einfach nur so, aus Spaß am Töten. Ein sehr altes Krokodil behauptete sogar, die Menschen würden kleine Stücke von toten Krokodilen mit sich herumtragen. Aber genau wußte das keiner. Und so recht mochte es auch niemand glauben, denn es ergab keinen Sinn. Friedhelm jedenfalls konnte sich nicht vorstellen, einfach nur zum Spaß andere Lebewesen zu töten.
     So wuchs er denn heran und lernte, sich den wechselnden Jahreszeiten anzupassen, wenn nach nicht enden wollenden Trockenzeiten endlich die Leben spendenden Wasser kamen. Der Urwald dampfte und schickte die grauen Wolken in den Himmel, wo sie wieder zu Regen wurden. Vorbei war die Trägheit während der heißen, trockenen Monate. Nur selten mal ein Sonnenstrahl im tropfnassen Grün, dann wieder Regen, Nebel, Tau. Und mit dem Regen kam auch für die Krokodile die Zeit des Aufbruchs, das herrliche Leben, reich an Nahrung, pfeilschnelles Schwimmen in den Fluten des Flusses, der dann ein riesiger See war. Inzwischen liebte Friedhelm diese Zeit des aufregenden Kampfes mit den Naturgewalten, wenn es darauf ankam, von ererbten und erworbenen Fähigkeiten den richtigen Gebrauch zu machen. Geschicklichkeit, Kraft und Ausdauer waren wichtige Voraussetzungen für das Überleben in dieser Zeit. Wenn sich die Flutwellen tosend ihren Weg bahnten, alles mitreißend, was sich während der vergangenen Trockenzeit an den Ufern angesammelt hatte, was schwach und hilflos war. Die Sandbänke – ja ganze Inseln – verschwanden dann und bildeten sich an anderen Stellen im Fluß neu. Ein ewiger Kreislauf, wie in anderen Ländern Sommer und Winter, Hitze und Kälte. Doch davon wußte Friedhelm nichts. Seine Welt war der Fluß mit seinen schilfbestandenen Ufern und den grünen Mauern des Urwaldes. Bis zu jener Nacht, in der sich diese Welt auf eine unerwartete Weise verändern sollte.
     Wieder einmal ist die Trockenzeit angebrochen. Der Fluß ist schmal, und nur in der neu entstandenen Bucht ist noch genügend Wasser für die Krokodile. So sind denn auch hier die meisten von ihnen versammelt, um sich den Schlamm vom Rücken zu waschen, der sie tagsüber vor den sengenden Strahlen der Sonne geschützt hat. Am Tag zuvor hatten sie schon das eigenartige Klopfen gehört, doch der große hölzerne Fisch, mit den Menschen auf seinem Rücken, ist nicht gekommen. Trotzdem herrscht Unruhe unter den Tieren. Wie vor einem Gewitter. Gelegentlich hört man die Warnschreie der Affen aus dem Urwald, Vögel fliegen auf, drehen weite Kreise und verschwinden hinter den Bäumen. Irgend ein großes Tier bahnt sich hastig einen Weg durch das Unterholz. Vom Stamm eines Urwaldriesen löst sich eine große Schlange und verschwindet lautlos im Wasser. Das sind nicht die üblichen Stimmen der Nacht. Es sind Geräusche, die zur Vorsicht mahnen, und die Krokodile schwimmen – nur Augen und Nase über dem Wasser – im Kreis. Der Mond ist noch nicht aufgegangen, aber ein schwacher Schimmer hinter den Baumkronen, die jetzt schwarz und drohend den Himmel einzuengen scheinen, kündigt seine Reise über das Firmament an. Dann verstummt auch das letzte Geräusch in der Bucht, eine unnatürliche Stille breitet sich aus.

     Da! Plötzlich durchbricht ein gleißendes Licht die Schwärze der Nacht. Friedhelm ist geblendet. Entsetzt und fasziniert zugleich starrt er in dieses Licht. Er weiß nicht, daß seine Augen den Schein reflektieren. Zwei rote Punkte, Zielscheibe für den Tod, der irgendwo lauert, im Dunkel der Nacht. Und immer näher kommt dieses irrsinnige Licht. Friedhelm ist unfähig, sich zu bewegen. Dann ein schwirrendes Geräusch, ein Zischen – etwas fliegt durch die Luft, zerteilt den grellen Lichtstrahl, kommt genau auf Friedhelm zu, reißt ihn – zu spät – aus seiner Erstarrung. Mit wilden Schlägen peitscht er das noch eben ruhige Wasser der Bucht auf. Etwas trifft auf seinen Rücken, ein scharfer Schmerz, dann ein Ruck. Gefangen! – Rasend vor Angst und Wut bäumt sich der mächtige Körper auf. Weg, nur weg. Doch das Ding auf dem Rücken hält ihn fest. Wieder ein stechender Schmerz! Wie ein Stromschlag durchfährt er den ganzen Körper von den Zähnen bis zum Schwanz und lähmt ihn sekundenlang. Dann ein Ruck: er ist wieder frei. Ein inneres Gefühl läßt ihn die Richtung zum Fluß einschlagen. Nur raus aus der Bucht, weg von diesem mörderischen Licht. Der Schmerz im Rücken wird dumpfer. Erschöpft kriecht Friedhelm auf eine Sandbank. Der stille Fluß ist seine Rettung. Noch vor einem Monat hätte ihn die Strömung mitgerissen. Irgendwo, festgeklemmt zwischen Felsen und Baumstämmen, würde ihn ein qualvoller Tod erwartet haben.
     Zwei Tage und zwei Nächte verbringt Friedhelm hier, halb auf der Sandbank, halb im Wasser. Die Wunde auf dem Rücken schwärt in  der Hitze. Ein klopfender Schmerz, im Takt mit seinem Herzschlag, erinnert entfernt an den hölzernen Fisch. Glühende Mittagssonne, kein Wind, kein Schatten; mühsam schleppt sich Friedhelm am dritten Tag flußaufwärts, zur Bucht, zu den anderen Krokodilen. Sein Blick gleitet den Uferstreifen entlang, sucht Anhaltspunkte für bekanntes Gebiet, die vertrauten Formen der gewohnten Umgebung. Er weiß nicht, wie weit er auf der Flucht vor dem mörderischen Licht in jener Nacht flußabwärts geraten ist. Mühsames Vordringen am dicht bewachsenen Uferstreifen, denn das Schwimmen fällt ihm zu schwer. Der Schwanz, sonst sein Motor im Wasser, ist gefühllos, schleift über den Boden.
Da schimmert etwas durch das Schilf, ein bekanntes Muster. Friedhelm kriecht schneller darauf zu, nimmt alle seine restliche Kraft zusammen, bahnt sich einen Weg durch trockenes Geäst und herumliegende Baumstämme, vorbei an einzelnen Urwaldriesen, die seit Jahrhunderten den Fluten und Stürmen trotzen. Dieses Muster – er kennt es, es zieht ihn magisch an. Näher, immer näher. Dann erreicht er die Stelle. Niedergetretenes Schilf im Umkreis von fünf, sechs Metern, und mitten darin ein Krokodil. Ein Krokodil? Es ist seine Mutter; unverwechselbar ist die Rückenzeichnung. Aber wie liegt sie da? Verkrümmt, halb auf dem Rücken. Kein lebendiges Krokodil liegt so in der Gegend herum! Vorsichtig umkreist  Friedhelm den gewaltigen Körper: Eine klaffende Wunde hinter dem Kopf; die Haut vom Bauch und unter dem Schwanz ist abgezogen. Sonst nichts. Nur ein totes Krokodil, zufällig Friedhelms Mutter.
     „Warum?“ hämmert es in Friedhelm, „warum – warum?“ im Takt seines langsamer werdenden Herzschlags. – Kleine Stücke von Krokodilen – der hölzerne Fisch – die Menschen – das Licht... Gedankenfetzen, Erlebtes und Gehörtes gehen unbewußt ineinander über. Begriffe verschwimmen. Die Baumkronen neigen sich zu ihm nieder, Dunkelheit. Dann wieder Sonne. Beruhigende Geräusche vom Fluß, Fische springen, an den Baumstämmen gurgeln leise kleine Strudel. Es sind die vertrauten Geräusche einer Welt, zu der Friedhelm nicht mehr so ganz gehört.
     Ein großer Vogel stapft langbeinig über das niedergetretene Schilf, beäugt die beiden Krokodile, wendet sich ab, breitet seine Flügel aus und fliegt davon... Friedhelm hat sie immer bewundert, diese Wesen – fliegen, wie der Wind, schwerelos, irgendwo hin – schweben, ganz leicht, Wasser, Luft, kein Unterschied. Ein ganz neues Gefühl durchdringt ihn. Kein Schmerz mehr, kein Rücken. Friedhelm fliegt – wie dieser große Vogel. In ein anderes Land. In ein Land, in dem die Menschen die Krokodile in kleinen Stücken mit sich herumtragen.