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ich freu' mich aufs Frühstück... es ist nicht zum glauben. – – Ja, nach dem Frühstück zünd' ich mir eine Zigarr' an, und dann geh' ich nach Haus und schreib'... Ja, vor allem mach' ich die Anzeige ans Kommando; dann kommt der Brief an die Klara – dann an den Kopetzky – dann an die Steffi... Was soll ich denn dem Luder schreiben... »Mein liebes Kind, Du hast wohl nicht gedacht«... Ah, was, Unsinn! – »Mein liebes Kind, ich danke Dir sehr«... – »Mein liebes Kind, bevor ich von hinnen gehe, will ich es nicht verabsäumen«... – Na, Briefschreiben war auch nie meine starke Seite... »Mein liebes Kind, ein letztes Lebewohl von Deinem Gustl«... – Die Augen, die sie machen wird! Ist doch ein Glück, daß ich nicht in sie verliebt war... das muß traurig sein, wenn man eine gern hat und so... Na, Gustl, sei gut: so ist es auch traurig genug... Nach der Steffi wär' ja noch manche andere gekommen, und am End' auch eine, die was wert ist – junges Mädel aus guter Familie mit Kaution – es wär' ganz schön gewesen... – Der Klara muß ich ausführlich schreiben, daß ich nicht hab' anders können... »Du mußt mir verzeihen, liebe Schwester, und bitte, tröste auch die lieben Eltern. Ich weiß, daß ich Euch allen manche Sorge gemacht habe und manchen Schmerz bereitet; aber glaube mir, ich habe Euch alle immer sehr lieb gehabt, und ich hoffe, Du wirst noch einmal glücklich werden, meine liebe Klara, und Deinen unglücklichen Bruder nicht ganz vergessene... Ah, ich schreib' ihr lieber gar nicht!... Nein, da wird mir zum Weinen... es beißt mich ja schon in den Augen, wenn ich d'ran denk'... Höchstens dem Kopetzky schreib' ich – ein kameradschaftliches Lebewohl, und er soll's den andern ausrichten... – Ist's schon sechs? – Ah, nein: halb – dreiviertel. – Ist das ein liebes G'sichtel!... Der kleine Fratz mit den schwarzen Augen, den ich so oft in der Florianigasse treff! – Was die sagen wird? – Aber die weiß ja gar nicht, wer ich bin – die wird sich nur wundern, daß sie mich nimmer sieht... Vorgestern hab' ich mir vorgenommen, das nächstemal sprech' ich sie an. – Kokettiert hat sie genug... so jung war die – am End' war die gar noch eine Unschuld!... Ja, Gustl! Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!... Der da hat sicher auch die ganze Nacht nicht geschlafen. – Na, jetzt wird er schön nach Haus geh'n und sich niederlegen – ich auch! – Haha! Jetzt wird's ernst, Gustl, ja!... Na, wenn nicht einmal das biss'l Grausen wär', so wär' ja schon gar nichts d'ran – und im ganzen, ich muß's schon selber sagen, halt' ich mich brav... Ah, wohin denn noch? Da ist ja schon mein Kaffeehaus... auskehren tun sie noch... Na, geh'n wir hinein...
Da hinten ist der Tisch, wo die immer Tarock spielen... Merkwürdig, ich kann mir's gar nicht vorstellen, daß der Kerl, der immer da hinten sitzt an der Wand, derselbe sein soll, der mich... – Kein Mensch ist noch da... Wo ist denn der Kellner?... He! Da kommt er aus der Küche... er schlieft schnell in den Frack hinein... Ist wirklich nimmer notwendig!... Ah, für ihn schon... er muß heut' noch andere Leut' bedienen!
»Habe die Ehre, Herr Leutnant!«
»Guten Morgen.«
»So früh heute, Herr Leutnant?«
»Ah, lassen S' nur – ich hab' nicht viel Zeit, ich kann mit'm Mantel dasitzen.«
»Was befehlen Herr Leutnant?«
»Eine Melange mit Haut.«
»Bitte gleich, Herr Leutnant!«
Ah, da liegen ja Zeitungen... schon heutige Zeitungen?... Ob schon was drinsteht?... Was denn? – Mir scheint, ich will nachseh'n, ob drinsteht, daß ich mich umgebracht hab'! Haha! – Warum steh' ich denn noch immer?... Setzen wir uns da zum Fenster... Er hat mir ja schon die Melange hingestellt... So, den Vorhang zieh' ich zu; es ist mir zuwider, wenn die Leut' hereingucken.. Es geht zwar noch keiner vorüber... Ah, gut schmeckt der Kaffee – doch kein leerer Wahn, das Frühstücken!... Ah, ein ganz anderer Mensch wird man – der ganze Blödsinn ist, daß ich nicht genachtmahlt hab'. . . Was steht denn der Kerl schon wieder da? – Ah, die Semmeln hat er mir gebracht...
»Haben Herr Leutnant schon gehört?«...
»Was denn?« Ja, um Gotteswillen, weiß der schon was?... Aber, Unsinn, es ist ja nicht möglich!
»Den Herrn Habetswallner...«
Was? So heißt ja der Bäckermeister... was wird der jetzt sagen?... Ist der am End' schon dagewesen? Ist er am End' gestern schon dagewesen und hat's erzählt?... Warum red't er denn nicht weiter?... Aber er red't ja...
»... hat heut' nacht um zwölf der Schlag getroffen.«
»Was?«... Ich darf nicht so schreien... nein, ich darf mir nichts anmerken lassen... aber vielleicht träum' ich... ich muß ihn noch einmal fragen... »Wen hat der Schlag getroffen?« – Famos, famos! – Ganz harmlos hab' ich das gesagt! –
»Den Bäckermeister, Herr Leutnant!.. Herr Leutnant werd'n ihn ja kennen... na, den Dicken, der jeden Nachmittag neben die Herren Offiziere seine Tarockpartie hat... mit'n Herrn Schlesinger und'n Herrn Wasner von der Kunstblumenhandlung vis-à-vis!«
Ich bin ganz wach – stimmt alles – und doch kann ich's noch nicht recht glauben – ich muß ihn noch einmal fragen... aber ganz harmlos...
»Der Schlag hat ihn getroffen?... Ja, wieso denn? Woher wissen S' denn das?«
»Aber Herr Leutnant, wer soll's denn früher wissen, als unsereiner – die Semmel, die der Herr Leutnant da essen, ist ja auch vom Herrn Habetswallner. Der Bub, der uns das Gebäck um halber fünfe in der Früh bringt, hat's uns erzählt.«
Um Himmelswillen, ich darf mich nicht verraten... ich möcht' ja schreien... ich möcht' ja lachen... ich möcht' ja dem Rudolf ein Bussel geben... Aber ich muß ihn noch was fragen!... Vom Schlag getroffen werden, heißt noch nicht: tot sein... ich muß fragen, ob er tot ist... aber ganz ruhig, denn was geht mich der Bäckermeister an – ich muß in die Zeitung schau'n, während ich den Kellner frag'...
»Ist er tot?«
»Na, freilich, Herr Leutnant; auf'm Fleck ist er tot geblieben.« O, herrlich, herrlich! – Am End' ist das alles, weil ich in der Kirchen g'wesen bin...
»Er ist am Abend im Theater g'wesen; auf der Stiegen ist er umg'fallen – der Hausmeister hat den Krach gehört... na, und dann haben s' ihn in die Wohnung getragen, und wie der Doktor gekommen ist, war's schon lang' aus.«
»Ist aber traurig. Er war doch noch in den besten Jahren.« – Das hab' ich jetzt famos gesagt – kein Mensch könnt' mir was anmerken... und ich muß mich wirklich zurückhalten, daß ich nicht schrei' oder aufs Billard spring'...
»Ja, Herr Leutnant, sehr traurig; war ein so lieber Herr, und zwanzig Jahr' ist er schon zu uns kommen – war ein guter Freund von unserm Herrn. Und die arme Frau...«
Ich glaub', so froh bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen... Tot ist er – tot ist er! Keiner weiß was, und nichts ist g'scheh'n! – Und das Mordsglück, daß ich in das Kaffeehaus gegangen bin... sonst hätt' ich mich ja ganz umsonst erschossen – es ist doch wie eine Fügung des Schicksals... Wo ist denn der Rudolf? – Ah, mit dem Feuerburschen red't er... – Also, tot ist er – tot ist er – ich kann's noch gar nicht glauben! Am liebsten möcht' ich hingeh'n, um's zu seh'n. – – Am End' hat ihn der Schlag getroffen aus Wut, aus verhaltenem Zorn... Ah, warum, ist mir ganz egal! Die Hauptsach' ist: er ist tot, und ich darf leben, und alles g'hört wieder mein!... Komisch, wie ich mir da immerfort die Semmel einbrock', die mir der Herr Habetswallner gebacken hat! Schmeckt mir ganz gut, Herr von Habetswallner! Famos! – So, jetzt möcht' ich noch ein Zigarrl rauchen...
»Rudolf! Sie, Rudolf! Sie, lassen S' mir den Feuerburschen dort in Ruh'!«
»Bitte, Herr Leutnant!«
»Trabucco«... – Ich bin so froh, so froh!... Was mach' ich denn nur?... Was mach ich denn nur?... Es muß ja was gescheh'n, sonst trifft mich auch noch der Schlag vor lauter Freud'!... In einer Viertelstund' geh' ich hinüber in die Kasern' und laß mich vom Johann kalt abreiben... um halb acht sind die Gewehrgriff, und um halb zehn ist Exerzieren. – Und der Steffi schreib' ich, sie muß sich für heut' abend frei machen, und wenn's Graz gilt! Und nachmittag um vier... na wart', mein Lieber, wart', mein Lieber! Ich bin grad gut aufgelegt... Dich hau' ich zu Krenfleisch!
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Interpretation und Zusammenfassung: Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“
Arthur Schnitzlers Novelle Leutnant Gustl (1900) gilt als Meilenstein der Literaturgeschichte und markiert den Beginn des inneren Monologs als literarisches Stilmittel im deutschsprachigen Raum. In dieser bahnbrechenden Erzählung gewährt Schnitzler einen ungeschönten Einblick in die Gedankenwelt eines österreichischen Leutnants der Jahrhundertwende. Die Novelle ist nicht nur ein literarisches Experiment, sondern auch eine scharfsinnige Gesellschaftskritik, die die Werte und Widersprüche des Militärapparats sowie der Wiener Gesellschaft thematisiert.
Inhaltliche Zusammenfassung
Die Handlung spielt sich nahezu vollständig im Kopf des Protagonisten, Leutnant Gustl, ab. Nach einem Konzert gerät Gustl mit einem Bäckermeister in einen Streit, bei dem dieser Gustl verbal bloßstellt und körperlich bedroht. Für Gustl, der in einer Welt lebt, in der Ehre und gesellschaftliches Ansehen alles bedeuten, ist dieser Vorfall eine Katastrophe. Sein militärischer Ehrenkodex verlangt in einer solchen Situation entweder Genugtuung durch ein Duell oder, falls dies unmöglich ist, den Suizid, um die eigene Ehre wiederherzustellen.
Die Nacht und der darauffolgende Tag durchlebt Gustl in tiefen existenziellen Konflikten, die zwischen Selbstmitleid, Angst, Trotz und gelegentlichem Selbstbewusstsein schwanken. Der innere Monolog enthüllt dabei nicht nur seine oberflächliche, impulsive Persönlichkeit, sondern auch die hohlen, oft grotesken Ideale, denen er folgt. Am Ende erfährt Gustl, dass der Bäckermeister unerwartet verstorben ist. Für ihn bedeutet dies die Wiederherstellung seiner Ehre, und er wendet sich ohne jegliche Reflexion seinem Alltag zu.
Interpretation und Themen
Schnitzler entlarvt in Leutnant Gustl die fragile Ehre und die geistige Leere einer Gesellschaftsschicht, die ihre Identität ausschließlich über äußere Werte wie Stand und Ansehen definiert. Gustls gedankliche Sprunghaftigkeit, seine Egozentrik und seine Unfähigkeit zur Selbstreflexion machen ihn zu einem Symptom des gesellschaftlichen Klimas der damaligen Zeit. Schnitzler kritisiert nicht nur den Ehrenkodex des Militärs, sondern auch die Doppelmoral und Oberflächlichkeit der kaiserlichen Wiener Gesellschaft.
Die Novelle spiegelt zudem Schnitzlers eigene Erfahrungen als Arzt wider, der sich intensiv mit der Psychoanalyse und den Theorien Sigmund Freuds auseinandersetzte. Die Darstellung der psychologischen Mechanismen im Bewusstsein und Unterbewusstsein des Protagonisten macht das Werk zu einer psychologischen Studie, die auch heute noch relevant ist.
Einordnung ins Gesamtwerk
Leutnant Gustl reiht sich in Schnitzlers Gesamtwerk als frühes Beispiel seiner kritischen Auseinandersetzung mit den sozialen und psychologischen Mechanismen der Wiener Gesellschaft ein. Werke wie die Traumnovelle (1926), die die dunklen Sehnsüchte und Abgründe der menschlichen Psyche beleuchtet, oder Casanovas Heimfahrt (1918), das den Alterungsprozess und die Melancholie eines ehemaligen Verführers thematisiert, greifen ähnliche Themen auf. Gemeinsam ist ihnen Schnitzlers Fähigkeit, komplexe Charaktere und deren innere Konflikte feinfühlig und präzise zu skizzieren.
Relevanz von Leutnant Gustl
Die Novelle bleibt ein bedeutendes Werk der literarischen Moderne und hat durch ihre innovative Erzähltechnik und tiefgehende Gesellschaftskritik nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie fordert den Leser auf, über den Wert von Ehre, die Rolle des Individuums in sozialen Strukturen und die Illusionen einer gesellschaftlichen Fassade nachzudenken. Schnitzlers feinfühlige Analyse menschlicher Schwächen und seiner Zeit machen Leutnant Gustl zu einem zeitlosen Klassiker der Literatur.