Im Nachmittagslicht wirft der Betonklotz fußballfeldgroße Schatten. Vor dem ausladenden Portal wimmelt es von Schildern. Das Gelbe mit dem Adler wirkt unscheinbar gegen das Geprotze der Firmen. Der Hinweis auf einen deutschen Betrieb, der Gurken in Gläser stopft und ihnen Saures gibt, sorgt für einen Anflug von Küchentischgefühlen. Das ändert sich sofort, als ich die Eingangshalle betrete. Überall stehen Wachleute herum, die sich nasepopelnd umsehen.
Auf einem Wegweiser lese ich, dass ich in den 12. Stock muss. Zum Glück gibt es einen Aufzug. Danach allerdings lande ich in einem Foyer, das einem Affenkäfig gleicht. Der Zugang ist komplett vergittert. Der Weg nach innen führt durch eine Schleuse an einer Pförtnerkabine vorbei. Hier hat sich eine Schlange gebildet. Alle Besucher müssen in ein Kameraauge sehen und ihre Fingerabdrücke auf einem Pad hinterlegen. Schließlich wird auch der Pass einkassiert, erst dann werde ich durchgelassen. Nun geht es einen Gang entlang vor einen Tresen. Dort muss ich erklären, was ich möchte. »Cristina ist tot. Die haben sie umgebracht. Im Casa da Beleza.« Die Angestellte reißt die Augen auf und beißt sich auf die blaßrosa Lippen. »Waren Sie schon bei der Polizei?« »Nein, ich weiß nicht wo. Außerdem sind die hinter mir her. Wenn die mich kriegen, machen die mich alle. Bestimmt.« Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hat, nimmt sie mich genauer unter die Lupe.
»Erzählen Sie bitte mal langsam, der Reihe nach. Wer sind Sie und wer soll von wem getötet worden sein?« »Ich bin Nel Arta. Die Tote heißt Cristina Ribeiro. Umgebracht haben die sie von der Klinik Casa da Beleza in Sorocaba. Das sind verdammte Organklauer. Kapiert?« Aus ihrem Gesicht spricht die Lebenserfahrung einer langgedienten Kummerkastentante. Sie erkennt Verrückte auf den ersten Blick. Mich eingeschlossen. »Was haben Sie denn dort gemacht? Und wer ist diese Cristina Ribeiro?« »Ich ... ich war zu einer OP dort. Cristina auch. Sie stammt aus São Paulo und ist mit einem Deutschen verheiratet. Der hat bestimmt schon deswegen angerufen. Jason Fenner, aus Berlin. Wissen Sie denn nichts davon?« Sie zieht die Augenbrauen hoch und seufzt. »Bei mir hat niemand angerufen. Nach allem, was ich verstanden habe, ist das ein Fall für die Polizei. Sind Sie selbst involviert? Brauchen Sie einen Anwalt?« »Nein, verflucht, ich brauch Schutz. Und jemand muss sich um Cristina kümmern. Sie ist schließlich Deutsche. Ist das wirklich so schwer zu begreifen?«
Hinter mir bildet sich allmählich ein neugieriges Auditorium. Kein Wunder, bei diesem Andrang. Die Angestellte linst mit flackerndem Blick an mir vorbei. »Moment«, murmelt sie, »ich ruf Ihnen jemand.« Mit ihrer sorgfältig manikürten Hand setzt sie die Brille auf, die an einem Band hängt. Sie nimmt eine Kladde und sucht darauf herum. »Soll ich noch ein bisschen für allgemeine Unterhaltung sorgen, bis Sie soweit sind?« frage ich. »Ei ja, immer lustisch«, sagt ein Mann mit sonnenverbrannter Stirn hinter mir. Die Angestellte gibt keine Antwort. Sie
nimmt den Hörer und tippt eine Nummer. »Hallo«, sagt sie, »ich brauche hier mal jemand von euch - Ja, meinetwegen - dann schick den Neuen rauf, aber bitte schnell – ja, danke.« Sie legt auf. »Gleich kommt jemand und kümmert sich um Sie. Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz«, sagt sie, wobei sie schon an mir vorbei den Nächsten fixiert. Ich sehe mich um, aber alle Stühle sind belegt. Der Mann hinter mir drängelt sich vorbei. »Ei, isch will de Pass verlängert habbe ...« Ich entferne mich ein paar Schritte. Hoffentlich muss ich
nicht allzulange warten. Ich habe schon wieder Hunger. Nach fünf Minuten taucht ein Typ in kurzärmligem Hemd und Krawatte auf. Die Angestellte schickt ihn zu mir.
»Guten Tag. Mein Name ist Schaffrath. Wie kann ich Ihnen helfen?« Er streckt mir die Rechte entgegen. Ich ignoriere sie. »Ich weiß von einem Mord.« Wieso reißen eigentliche alle, wenn sie davon hören, die Augen auf? »Am besten, Sie folgen in mein Büro und erzählen mir alles.« Schaffrath geht voraus durch Gänge, in denen sich Wartende die Ärsche plattsitzen. Vor einer Doppeltür holt er eine Karte heraus und steckt sie in ein Terminal. Mit einem Klicken wird entriegelt.
Wir müssen eine Treppe hinunter steigen. Durch eine weitere Doppeltür kommen wir in einen weitaus ruhigeren Trakt. Dort öffnet er eine Tür und lässt mich in ein kleines Büro eintreten. Er weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz.« Bevor er sich hinsetzt zieht er die Hose über die Knie nach oben. Er trägt Bart-Simpson-Socken. »Bitte, erzählen Sie doch mal der Reihe nach. Vielleicht erst Ihre Personalien und dann was passiert ist.« »Nel Arta, aus Berlin. Gestern habe ich meine Freundin Cristina tot in einer Kühlbox in der Klinik Casa da Beleza gefunden. Ihr wurden Organe geklaut.« Schaffraths Finger zischen über die Tasten seines Notebooks. Das wirkt nun schon sehr viel ernsthafter. Nach einer Viertelstunde hat er fast alles aus mir heraus gequetscht. »Und Sie sagen, dieser Herr Fenner wollte sich heute bei uns telefonisch melden? Da werde ich gleich mal nachfragen.« Er greift zum Telefon. »Hallo, hier ist Schaffrath. Hat sich bei euch heute ein Herr Jason Fenner gemeldet, wegen des Verbleibs seiner Frau? - Ja, ich warte – aha – ja – ach so? - okay – ja, mach ich – ja gut, habe ich verstanden – Danke.« Er sieht missmutig auf den Bildschirm. Dann seufzt er. »In dieser Sache wurde heute schon ein bisschen mehr telefoniert. So ganz eindeutig scheint das nicht zu sein.« Sein Notebook macht »Pling«. Er drückt eine Taste. »Die Klinik hat vorsorglich eine Nachricht für Sie hinterlassen. Ich gebe Ihnen das einfach mal so weiter: Sie mögen sich dort melden. Falls Sie die OP nicht mehr wünschen, können Sie das Geld wieder abholen. Außerdem schreiben die, es handele sich um einen tragischen Todesfall, wie er in der Anästhesie immer mal vorkommen kann.« »So ein Blödsinn. Ich hab Cristina gesehen. Das war Mord.« »Sie brauchen nicht schreien, ich höre noch gut. Sie sind erregt, ich verstehe das. Die Tote ist Ihre Freundin und Sie wollten sich umoperieren lassen, nicht wahr?«
Am liebsten würde ich mit dem Arm über seinen Schreibtisch fegen und alles Gerümpel samt der kleinen FC Köln-Fahne gegen die Wand hauen. Aber ich reiße mich zusammen. »Es gibt Menschen, die das so nennen, ja.« »Was machen wir nun?«, fragt Schaffrath. »Ihnen ist
natürlich unbenommen, die Polizei zu verständigen. Das kann auch Herr Fenner tun, wen ihm unsere Avis in dieser Sache nicht gefällt.« »Was erwarten Sie, was Mörder sagen, wenn sie beschuldigt werden? Sind Sie wirklich so blöde und glauben deren Ausreden einfach?« »Frau Arta, wir sind nicht die Polizei. Was ich glaube oder nicht, spielt keine Rolle. Wenn Sie mit stichhaltigen Beweisen kommen, werde ich Ihnen gerne helfen. Im Rahmen meiner Möglichkeiten.« »Ach Scheiße, wo sollen die herkommen? Können Sie nicht selbst mal dort nachsehen? Lassen Sie sich Cristina zeigen. Sie werden schon sehen.« »Nochmal, das ist nicht mein Job. Davon verstehe ich auch nichts. Ganz nebenbei ist für diese Klinik einer unser Honorarkonsuln Ansprechpartner.« »Na toll. Jetzt weiß ich auch mal, wie die Unterstützung des Konsulats aussieht. Warum bin ich eigentlich hergekommen?« Mit Blick auf das gerahmte Foto neben seinem Schreibplatz sage ich: »Weiß eigentlich Ihre Frau, was fürn Lulli Sie sind?«
Schaffrath zieht seine hohe Stirn in Falten. »Ich verstehe ja Ihre Angst und Ihre Enttäuschung«, sagt er nach kurzem Stocken. »Mir ist klar, dass Sie sich Sorgen machen. Am besten hinterlassen Sie mir eine Telefonnummer oder Kontaktadresse, unter der ich Sie erreichen kann. Falls ich etwas erfahre oder noch eine Frage auftaucht.« »Ich hab noch keine Bleibe.« »Hier in São Paulo finden Sie sicher was. Ich gebe Ihnen meine Karte, dann können Sie mich anrufen. Ich schreibe Ihnen noch die Nummer des Konsuls auf die Rückseite. Sie können ihn gerne ansprechen. Er ist auch Beisitzer in der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer. Er kennt sich aus.« Er schiebt mir eine Karte über den Tisch und schraubt sich aus dem Stuhl. Audienz beendet, soll das wohl heißen. Ich schnappe mir die Karte. Auf der Rückseite steht: Dr. Klaus Klinkhammer. Darunter eine ellenlange Telefonnummer. Schaffrath ist bemüht zuvorkommend: »Ich bringe Sie wieder nach oben in den Publikumsbereich. Damit Sie sich nicht verlaufen.« Unterwegs fragt er: »Sie haben wahrscheinlich Angst, diese Klinik wieder zu betreten, wegen Ihres Geldes. Das ist bestimmt eine Menge, nicht wahr?« »Logo. Viel zu viel ums einfach dazulassen.«
Er überlegt kurz. »Sie können es sich ja überweisen lassen. Oder, wenn Sie es sofort brauchen, mit jemandem zur Unterstützung dorthin gehen.« Sieh mal an, ganz so dämlich ist dieser Heini nicht.