Mein Name ist Miriam B.

Bild von Thery Trojan
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Dieses kleine Stück blauer Himmel. Wissen Sie, wie viel Bedeutung so etwas haben kann? Nein, ich denke nicht, dass Sie wirklich wissen, was in einem Menschen bei diesem
Anblick vorgeht.

Ich weiß es, habe fokussieren gelernt. Hilft überleben. Auch wenn ich mich oft gefragt habe, wozu eigentlich. Ein paar Jahre mehr oder weniger ... was soll's? Es macht pffffft und weg ist sie, die Zeit. Als ich 18 war, dachte ich noch, unsterblich zu sein. Geht wohl den meisten Menschen so. Und heute sitze ich hier, schaue zurück und habe nur dieses Pffffft im Kopf. Das ging einfach zu schnell. Pffffft. Mehr nicht.

Jetzt, im Nachhinein denke ich manchmal, dass es Wurscht ist, auf welche Weise man dieses Pffffft verbringt. Der Deckel fällt so oder so zu. Kein Schwein interessiert dann noch, was du bis zu diesem Knall getan hast.

Jaaa, JETZT denke ich so. Früher war ich dumm, glaubte an Freiheit und so einen Kram. Die des Körpers und des Geistes. Haben Sie so etwas? Na ja, vielleicht reden
Sie sich ja ein, so Sachen zu besitzen. Machen Sie ruhig. Ich weiß es besser.

Ich hatte nämlich Klaus. Heute weiß ich, dass viele einen Klaus hatten oder haben. Kläuse gab es schon immer. Die sterben nie aus.

Warum sollten sie auch. So lange es Frauen wie mich gibt, die unbedingt einen haben wollen. Angebot und Nachfrage. Die Rechnung wird immer aufgehen.

Ok, damals glaubte ich, ich wäre die Einzige. Ging keinen was an, also hielt ich die Klappe. Nicht freiwillig, aber mit aufgeplatzten Lippen macht das Reden eh keinen Spaß.
Freunde braucht man dann auch keine mehr. Glaubt doch kein Mensch, dass Du jeden zweiten Tag die Treppe runtergefallen bist. Sind ja auch nicht blöd, die Leute.

Damals fing es an. Das Begreifen, wie viel es Wert hat, so ein kleines Stück blauer Himmel. Ein Meter mal ein Meter. Mehr braucht es nicht. Du hockst dann so am Küchentisch
und träumst dich in diesen blauen Quadratmeter rein.
Sollten Sie mal versuchen, wenn Sie Sehnsucht nach Freiheit haben. Ja, lächeln Sie nur. In meinem Quadratmeter hatte ich mehr davon, als Sie in Ihrer
Ignoranz glauben zu haben.

Verarschen Sie sich ruhig weiter. Hab's ja auch lange genug getan.

Und dann habe ich dieses Buch gelesen.

Der Titel?
Habe ich vergessen. Spielt auch keine Rolle.
Den Namen der Frau weiß ich noch.

Anfissa.

So'n Zyklus mit Heldenerzählungen.
Spielte in der noch jungen Sowjetunion.

Die Anfissa hatte mir's angetan. Bauernfrau war sie, groß und dick. Hübsch war sie auch nicht. Aber Liebe wollte sie. Also verliebte sie sich. Dummerweise auch in einen Klaus. Anfissa wurde meine Freundin. Hatte ja sonst keine. Ich dachte immer: 'Die versteht mich. Hat ja auch nicht viel mehr, als ein Stück blauen Himmels.' Der ihr Klaus war einer von den ganz Fiesen. Und dann passierte was.
Ich bekam Wut. Echt, ich wurde stinksauer beim Lesen.
Nicht auf Klaus, nein, der war, wie nicht anders zu erwarten.
Auf Anfissa wurde ich sauer. Meine Freundin, die sich behandeln ließ wie ein Stück Dreck.

' Menschenskinder', dachte ich immer wieder, 'nu mach doch was Mädchen!'

Ganz aus war es, als er ihr die Brustwarze abbiss. Die baumelte dann nur noch an so einem Hautfädchen.
Um ein Haar hätte ich das Buch in die Tonne gekloppt.
Ich habe meine Kaffeetasse an die Wand gefeuert, so wütend war ich auf Anfissa. Wie kann man sich so was gefallen lassen?!? Dem Kerl gehörte doch ein Messer in
den feisten Wanst!

Da saß ich dann ganz fassungslos und guckte meinem Kaffee zu, wie er da so an der Küchenwand runterlief. Und dann dieses komische Gefühl. Kann einen aber auch aufwühlen, wenn man so was liest. Ich fühlte mich plötzlich anders an. Nicht mehr wie ich. Mehr so wie Anfissa. Ja. Ich war Anfissa. Ich war alle Anfissas dieser Welt. Und gerade, als ich das begriff, ging die Tür auf. Klaus kam heim. Also jetzt MEIN Klaus. Er stand da und guckte ganz komisch auf die neue Kaffeewand. Dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Das sehe ich noch ganz deutlich. Er kam auf mich zu. Mit geballten Fäusten. Mein Gott, wie vertraut mir dieser Anblick war. Ich war schneller. Dieses eine Mal war ich schneller. Die Anfissa in mir verlieh mir Kraft. Das Messer flutschte bis zum Anschlag in seinen Hals.

Als die Polizei mich abführte, warf ich noch einmal einen Blick auf Klaus. In diesem kurzen Augenblick sah ich alle Kläuse dieser Welt blutend am Boden liegen. Und ich sah alle Anfissas dieser Welt lächeln. Ein toller Moment.

Das war heute vor exakt 21 Jahren.
Mein Leben hat sich verändert.
Ich weiß, was Freiheit bedeutet.

Was meinen Sie?
Die Mauern?

Ich bitte Sie.

Wenn Ihr Deckel zufällt, können Sie dann von sich behaupten, jemals wirklich frei gewesen zu sein?
Sehen Sie, ICH kann es.

Bis dahin genieße ich mein Stück blauen Himmels.
Bisschen kleiner als das aus meinem Küchenfenster.

Anfissa sitzt neben mir und lächelt.

Uns tut nichts mehr weh.

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