Was Frau Kowal will

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Sie wurde im Januar eingestellt. Irrte auf Bleistiftbeinen durch das Werktor, als suche sie ein weggelaufenes Haustier.
Ich verlief mich in Hackes Vorzimmer und da stand sie in ihrem nachkriegsmäßigen Mantel und trat einen nassen Fleck in den Belag. Der Alte platzte herein, riss der Sekretärin die Post aus der Hand und stürzte in sein Büro.
„Wie Madame Chauchat“, flüsterte sie, zusammengezuckt unter heftig zugeworfener Tür. „Er kommt dreißig Minuten zu spät. Heute ist mein erster Tag. Und gegrüßt hat er auch nicht.“
„Herr Hacke ist sehr beschäftigt“ erwiderte die Schmidt.
Ich war deplatziert, beräumte mein Postfach und beschloss, zu verschwinden, bevor mir der Alte Überstunden verschaffte mit einem seiner Geistesblitze. Zu spät, der Boden vibrierte, Hacke brach hervor und übersah die Mantelfrau - die ganz erstaunlich reagierte und ihm das Bisschen ihres Körpers in den Weg stellte.
Hacke begriff. „Schloddarik!“, bellte er mich an, „mach‘n Se sich nützlich!“
Ich machte. Führte sie durch Produktion, Lager und Versand. Erklärte das Notwendige und vermied Blickkontakt. Floh der Situation des Fahrstuhls und wählte die Treppe, stellte künftige Mitarbeiter vor. Kaum einer hob den Kopf - so machen wir das hier.
Zehn Minuten, dann standen wir wieder auf dem Flur - wie überzählige Kleiderständer.
„Also, Frau Schuchardt - ich muss dann mal wieder …“
„Kowal“, entgegnete sie und drückte meine Hand; angenehm fest und ohne gleich wieder loszulassen. „Kowal - nicht Chauchat. Und sie?“
„Schloddarik. Export, Osteuropa.“
„Trinken wir einen Kaffee?“
„Was?“
„Das schwarze Getränk. Aus Äthiopien.“
Ich hatte mich aufgehängt wie ein altersschwacher Computer. Versagte beim Laden des Updates, dem Ergründen der Farbtöne ihrer Lippen und Augen.
Ein Knall holte mich zurück. Hacke rollte auf uns zu und trieb mich zu ungekannter Courage. Ich würde sie retten wie ein Soldat, in Deckung ziehen um den ungewollten Preis einer Berührung.
Nicht nötig. Kameradin Kowal tanzte einen Schritt rückwärts und verschmolz mit der Wand.
„Schloddarik!“ traf mich Hackes Speichel. „Nun steh‘n se nich rum mit der jung‘ Frau, das is‘ ihre neue Mitarbeiterin. Räum‘se ihr ‘nen Schreibtisch frei und los, ich will Ergebnisse seh‘n. Kasachstan steht an, und Kroatien, da red‘n wir nach Feierab‘nd.“

Ich habe Prinzipien. Arbeite allein, schreibe Mails, statt zu telefonieren. Meine Jalousien bleiben geschlossen und die Pausen vergesse ich meist.
Sie kam zu spät - am nächsten Morgen und den meisten der Folgenden. Zog das Rollo hoch, installierte eine futuristische Kaffeemaschine und setzte sie in Betrieb. Ich schnupperte. Der sich ausbreitende Duft passte so wenig in dieses Büro wie ich auf eine Party. Frau Kowal umfasste die Tasse mit den Handflächen, setzte sich hin und begann, aus dem Fenster zu starren. Verlor sich beim Anblick des geziegelten Schornsteins, als sei das ihre Aufgabe hier. Irritiert folgte ich ihrem Blick. Auf der zu einem schmalen Streifen beräumten Zufahrt umkurvten sich umständlich die Wagen. Eiszapfen hingen von den Giebeln herab und wuchsen zu Stalaktiten.
„Tausende Menschen wie Ameisen in ihrem Nest“, sagte sie. „Immer darauf bedacht, dem Anderen zu genügen. Den Chef beeindrucken, die Nachbarn grüßen, keine Angriffsfläche bieten. Was meinen Sie, Schloddarik, ist es das, wovon wir als Neunjährige geträumt haben?“
„Ich sollte sie in den Kasachstan-Auftrag einarbeiten“, entgegnete ich und griff nach dem Ordner.

Sie arbeitete fehlerfrei. Koordinierte Liefertermine, erstellte Produktionsaufträge und legte Rechnungen. Versäumte dabei nie ihre Kaffee-Zeremonie; drehte sich zur Seite und versank in etwas Wichtigerem als „Kasachstan“. Griff pünktlich ihren Mantel und ging.
Unmerklich leerte sich mein Postfach. Schmolz der babylonische Leitz-Ordner-Turm dahin wie draußen der Schnee. Plötzlich war ich fertig mit meiner Arbeit, mitten am Tag und zum ersten Mal seit Jahren.
Ich hob den Kopf. Ich hatte Veränderungen befürchtet. Wuchernde Pflanzen oder IKEA-Drucke; ein Familienfoto. Nichts von alledem.
„Glauben Sie, die Kasachen werden glücklicher sein, mit unseren Maschinen?“, fragte sie und klang dabei wie eine leise grollende Pantherfrau. „Oder dem anderen Quatsch: folienverschweißten Menüs und Telefonen, auf denen man mit den Fingern herumkratzt?“
Dieser Duft, dachte ich ohne zu antworten. Kaffee und Kowal, die Mischung des Jahres.
„Sind sie glücklich, Schloddarik?“
Ich sah sie an. Hatte das bisher versäumt, war zum Arbeiten hier, wusste um meine nicht vorhandene Anziehungskraft, hatte Vorkehrungen getroffen, alt zu werden ohne Qual.
Jetzt fand ich ihre Augen unter Brauen, die wie die Tilde spanischer Buchstaben geschwungen waren. Ihr Hals erinnerte mich an etwas Unerreichbares, ich dachte nach und entsann mich an Kleopatra in ihrer Vitrine.
Mechanisch bewegten sich meine Finger auf sie zu, fassten fahrig ihre Hand und hielten sie fest.
Erwachen und Schock. Ich ließ sie los, rannte zum Fenster und riss es auf, schnappte nach Luft in einer veränderten Welt.

„Guten Morgen, Frau Kowal.“
„Minus dreiundvierzig Grad in Kasachstan. Was meinen Sie, Schloddarik, packen das unsere Turbinen?“
„Ja“, entgegnete ich. „Und nein, ich bin nicht glücklich. Sind sie es?“
Darüber musste sie nachdenken. Hielt ihre Tasse wie einen Schatz in der Hand und ließ sich betrachten. Ich berauschte mich. Begriff Gott mit seinen Wundern: den Niagarafällen, dem Vatnajökullgletscher, der Kowalsilhouette. Folgte der Linie ihres Pullovers, einer irischen Landschaft mit Hügeln, die sich kräftig gegen die Maschen drängten. Bewunderte den Mut des Rollkragens, ihre Lippen zu berühren.

Das Frühjahr brachte viel Arbeit. Wir verblieben im Raum, kommunizierten selbst mit dem Nachbarzimmer per Mail. Nofretete ließ ihr Haar wachsen, zog den Pullover über den Kopf und machte die Ablage. Verzichtete auf Strümpfe und ging barfuß zu Röcken, die kurz über den Knien endeten. Mein Sommer bestand aus ärmellosen Blusen, nach oben gereckten Armen und einer Sensation: der tätowierten Sonne auf ihrem Fuß!

Ein Knall! Hacke brach wie ein Panzer in unser Büro.
„Das hätte jeder Penner besser erledigt, Schloddarik! Da kann ich mir ‘nen x-beliebigen Harz-Vier-Empfänger von der Straße hol‘n, der kriegt das besser hin. Sie fahr‘n noch heute nach Kroatien und bring‘ das in Ordnung!“ Er bellte etwas von einer Reklamation und nicht bezahlter Rechnung, forderte meinen Bericht bis Freitagabend und warf die Tür. Also fuhr ich meinen Rechner herunter und trottete zum Wagen. Hörte Schritte.
„Fahren wir“, sagte sie und warf den Laptop in den Fond.

Wir erreichten München. Peilten Udine an und begannen zu sprechen, ganz einfach, wie sich kennenlernende Kindergartenkinder. Erforschten unsere Farben und Songwriter, lobten Poe und Hitchcock. Die beiden Rinnsale schwollen zu Flüssen an, vereinten sich zu einem Strom und durchbrachen den Damm in Richtung Meer. Sie hatte ein Kind geboren, es alleine durchgestanden und den Kopf geschüttelt bei der Diagnose des Arztes - es hatte ihren Körper zu früh verlassen und war wie ein Vöglein aus dem Nest gefallen. Gestorben nach zwei Jahren.
Nach sechzehn Stunden endlich Pula. Wir besichtigten die Anlage und trafen uns mit dem Kunden. Der Kroate winkte ab. Ein Missverständnis, er habe die ganze Zeit versucht, es Hacke zu erklären. Die defekten Ventile stammten von einem alternativen Lieferanten und waren längst ausgetauscht. Alles sei in bester Ordnung; wie wäre es mit einer Portion Cevapcici?
Sie entschied, auf der Meerseite zurückzufahren. Die Klimaanlage verabschiedete sich bei Krinica, in Labin fuhr ich ab und stoppte den Wagen in der Altstadt.
„Ich stinke.“
„Ich mag es, wie du riechst“, erwiderte sie.
„Und du bist schön“, krächzte ich.
„Du nicht, Schloddarik. Da, rechts rum geht’s zum Meer.“
Der Asphalt wechselte auf Schotter, dann brach ein blauer Streifen durch die Macchia. Wir stiegen aus und stolperten den steilen Weg hinunter. Am Ende des Pfades lag eine Bucht; menschenleer, mit einem einzelnen, aus dem Fels wachsenden Baum.
Frau Kowal zog ihr Kleid über den Kopf und sprang wie eine Zehnjährige ins Wasser. Ordentlich drapierte ich meine Wäsche auf einem riesigen Findling. Ich habe mich nie besonders geschämt für meinen komischen Körper. Schwamm in kräftigen Zügen hinaus und ließ mich dann rücklings treiben im letzten Licht des Tages. Stieg aus dem Wasser, fiel um und schlief ein.

Ich erwachte im Dunkeln, flach ausgebreitet auf dem noch immer warmen Stein und spürte: sie war hier.
Claudia Kowal trat hinter dem Findling hervor. Stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Sternenlicht, schmal und still, hell und schwarz. Trat näher, kauerte und legte sich auf mich wie ein vom Gewitter überraschter Wanderer. Ich roch Disteln und Meer, berührte ihre Haut und schauderte. Alles wie von selbst. Sie zog die Beine an und baute eine kleine Brücke; fasste mich an, tat einige erstaunliche Bewegungen und nahm mich auf. Wir verschmolzen, rundeten unsere mageren Körper und verwuchsen zu siamesischen Zwillingen, verloren die Kontrolle und verbissen uns ineinander, vereinigten unsere kritischen Massen und detonierten mit leisem Schrei.

Wir frühstückten in der kleinen Konoba des Dorfes. Fanden einen Markt und kauften frische Unterwäsche, Hemd und Kleid. Ich tankte den Wagen voll, fuhr vor und verlor einen kurzen Disput über die kürzeste Strecke. Keine Autobahn, forderte sie. Am Meer entlang, an den verfallenen Kurhäusern; nach Opatija hinauf.
Diesmal schwiegen wir. Ich suchte ihre Hand und fand feuchte Krallen.
„Halt an.“
Ich stoppte auf einem kleinen Parkplatz voller Unrat.
„Warum nicht hier bleiben?“, flüsterte sie.
„Hier?“, entgegnete ich und stellte den Motor ab. „In einem dieser windschiefen Häuser?“
„Wir werden es ausbauen und bewachen lassen von einem riesigen Hund. Du wirst Oliven anbauen.“
„Und du Lavendel“, übernahm ich meine Rolle. „Den du tagsüber schneidest und abends in Säckchen füllst für deutsche Touristen.“
„Ich werde dich Jens nennen.“
„Und ich dich Claudia.“
„Wir werden arbeiten, uns lieben und schwimmen gehen, sonst nichts.“
„Sonst nichts“, lachte ich. Knackte mit den Fingern und startete den Motor. Legte den Gang ein und setzte den Blinker.
„Moment noch.“
Ich ließ sie pinkeln gehen, sah ihren schwarzen Schopf und das perlmuttfarbene Kleid in einer Gruppe junger Motorradfahrer verschwinden.
Fünf oder sechs Minuten später begriff ich. Stieg aus und starrte südwärts, den Bikern hinterher.

Ich habe ihren Schreibtisch entfernen lassen, die Kaffeemaschine verschenkt. Die Jalousien zugezogen. Der Winter brachte Matsch und hustende Kollegen, die ich zur Krankschreibung überredete, um ihre Arbeit zu übernehmen.
Die Finanzprüfung ist durch und Hacke auf Reisen. Es ist elf Monate her.

Ich bekomme den Brief nach der Mittagspause. Erkenne ihre Schrift, verliere den Kampf und öffne.
Ein Foto fällt heraus. Das Handyfoto eines winzigen Mädchens mit dunklen Haaren und meiner Nase.
„Ich würde sterben bei diesem Kind, hat der Arzt gesagt. Was für ein Quatsch. Das ist Antonija, sie ist kerngesund und immer hungrig. Leider hat sie Deine Nase.“
Ich stehe zehn Minuten im Raum. Dann öffne ich langsam die Schublade meines Schreibtisches. Entnehme eine Nadel und pinne das Foto an die Wand. Betrachte das Mädchen und muss plötzlich grinsen.
Wegen der Erkenntnis.
Hab nie gewusst, was die Kowal von mir will.
Jetzt weiß ich es.

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