Die Hinrichtung

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„Ich habe einundzwanzig Freiwillige“, erklärte Gefängnisdirektor Avrahami stolz.
Die zwei Staatsvertreter nickten anerkennend.
„Sind auch europäische Juden darunter?“, fragte sogleich der eine, ein untersetzter, eher beleibter Mann mit fast schwarzen, aber lichten Haaren.
Uri Avrahami dachte kurz nach.
„Ich denke schon, wieso?“
„Wir sollten es nicht von einem europäischen Juden machen lassen.“
„Warum nicht?“, fragte Avrahami sogleich. „Glauben Sie ernsthaft, dass die es nicht abwarten können und ihn vorher zur Strecke bringen?“
„Ich weiß“, warf der zweite Staatsbeamte, ein kleiner, drahtiger Typ, ein. „Es ist unwahrscheinlich, aber eben nicht auszuschließen. Außerdem soll der Eindruck einer rachsüchtigen Justiz vermieden werden. Also, haben sie nicht-europäische Juden in ihrer Einheit?“
„Natürlich. Sechs oder sieben sogar, ich müsste nur mal gucken. Der Einzige, der sich nicht freiwillig gemeldet hat, wäre zum Beispiel so einer: Schalom Nagar, erst vierundzwanzig Jahre alt, kam mit fünfzehn aus dem Jemen hierher.“
Die Augen der beiden Staatsvertreter leuchteten auf.
„Den nehmen wir. Der passt. Jung und leicht beeinflussbar, hoffe ich?“
„Nun“, erwiderte Avrahami. „Er ist sicher nicht der Hellste. Aber was ist mit den Freiwilligen?“
Es entstand eine kurze Pause. Dann hatte der kleine, drahtige Typ eine Eingebung.
„Wir losen aus“, sagte er. „Aber alle zweiundzwanzig Männer kommen in die Lostrommel. Auch ihr kleiner Jemenit. Sorgen Sie dafür, dass das Los auf ihn fällt.“
Avrahami nickte. Er verstand sich in dieser Sache als ausführende Gewalt, es oblag ihm nicht, Recht zu sprechen.

*

Beim langen Fall wird die Länge des Seils anhand von Körpergröße und Gewicht so bestimmt, dass es dem Delinquenten das Genick bricht, er aber nicht enthauptet wird. Beim kurzen Fall, wenn zum Beispiel der Hocker, auf dem der Verurteilte steht, weggezogen wird, tritt nach zehn bis dreißig Sekunden die Bewusstlosigkeit ein. In diesen Sekunden aber nimmt der Verurteilte alles wahr, fühlt den Schmerz, erkennt die Umstehenden, läuft rot an, stößt Geräusche aus, zappelt und kämpft. Erst dann wird durch die Kompression der arteriellen Gefäße das Hirn nicht mehr durchblutet und die Wahrnehmung lässt nach. Der Sauerstoffmangel führt in drei bis fünf Minuten zu irreversiblen Schäden, letztendlich, wenn alles glatt läuft, zum Tod.
Beim Standardfall beträgt die Fallhöhe zwischen 1,20 und 1,80 Meter. Hier steht der Verurteilte gewöhnlich auf einer Falltür, die mittels eines Hebels vom Henker geöffnet wird.

Alle diese Methoden nutzen das Körpergewicht des Todeskandidaten. So entsteht der Eindruck, der Erhängte habe sich durch sein eigenes Gewicht getötet, nicht durch den von fremder Hand ausgelösten Fall. Der Tod am Galgen unterscheidet sich im Anblick nicht groß vom Suizid.
Man stelle sich alle Hinrichtungen einmal wie folgt vor: Der Henker umschließt mit seinen beiden, im Idealfall großen, kräftigen Pranken den Hals des Verurteilten und drückt mit aller Kraft zu. Täter und Opfer stehen sich Auge in Auge gegenüber. Anders als beim Erhängen tritt der Tod durch Ersticken und nicht durch das Abschneiden der Blutzufuhr ein, aber der Effekt ist derselbe: Man stirbt.

Nur wäre der Blick auf die Todesstrafe wohl ein anderer.

*

Schalom saß in der Zelle des Gefangenen. Dieser saß am Schreibtisch und schrieb. Hinter der vergitterten Metalltür saß ein anderer Wärter und beobachtete Schalom und den Gefangenen. Aber auch dieser Wärter wurde von einem weiteren Aufseher beobachtet. Die Entscheider wollten keinen Fehler machen und trauten niemandem. Der Gefangene sollte davon abgehalten werden, sich selbst umzubringen, gleichzeitig fürchtete man aber auch, dass er von einem der Wärter umgebracht werden könne. Erst, wenn der Häftling erhängt worden war, würde es Ruhe geben.

Plötzlich kam ein weiterer Wächter zu Schalom und dem Gefangenen in die Zelle. Schalom schaute fragend zu ihm hoch. Der Gefangene reagierte gar nicht.
„Du sollst zum Chef“, sagte der Kollege.
Schalom nickte und stand auf. Er überließ dem Kollegen seinen Platz und ging zum Büro des Direktors.

Als die Aufforderung kam, ging Schalom in das Büro hinein, salutierte und machte Meldung. Direktor Avrahami sah nur kurz zu seinem Mitarbeiter auf, dann wandte er sich weder den Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch zu.
„Setzen Sie sich“.
Schalom tat wie ihm geheißen. Ungefähr vier Minuten verharrte er schweigend auf dem Stuhl, während der Gefängnisdirektor irgendwelche Blätter durchforstete und hier und da mit einem Kugelschreiber Paraphen setzte. Dann sah er zu ihm auf.
„Das Los ist auf Sie gefallen“, sagte er lakonisch.
Schalom wurde plötzlich ganz heiß. Die Hitze stieg ihm zu Kopf, er fühlte, dass er rot anlief. Er umklammerte den Sitz mit seinen Händen und drückte sein ganzes Gewicht in den Stuhl hinein. Außerstande, etwas zu sagen, nickte er bloß verhalten.
„Alles Weitere erfahren Sie zu gegebener Zeit“.
Wieder brachte Schalom nur ein Nicken zustande.
„Das wäre dann alles. Zurück auf ihren Posten“.
Langsam erhob sich Schalom vom Sitz und ging auf die Tür zu. Als er diese fast erreicht hatte, räusperte sich der Gefängnisdirektor nochmal.
„Eine Frage hätte ich noch“.
Schalom drehte sich noch einmal um.
„Ja!?“, krächzte er.
„Sie haben sich nicht freiwillig gemeldet. Wieso nicht?“
„Ich dachte..“, begann Schalom zögerlich. „Ich meinte, es stünde mir nicht zu. Ich finde, dass es jemand machen sollte, der selbst im Lager war oder Verwandte verloren hat.“
Avrahami schaute Schalom prüfend an. Eine Sekunde lang schien er versucht, etwas zu erwidern. Stattdessen aber kam nur ein Nicken, das einer Aufforderung zum Gehen gleichkam.

Schalom verließ das Büro und kehrte in die Zelle zurück um seinen Kollegen wieder abzulösen. Als er die Zelle betrat, konnte er nicht anders, als zum Gefangenen zu schauen. Er betrachtete dessen ausdrucksloses Gesicht mit der leicht schiefen Nase, der dunklen Hornbrille, der hohen Stirn und dem schütteren Haar. ICH werde es machen, dachte Schalom. ICH werde IHN hängen.

*

Im Jahre 1905 veröffentlichte der rumänische Arzt und Forensiker Nicolae Minovici eine Studie über das Erhängen. Untersucht wurden dabei 136 Suizide. Monovici kategorisierte die Toten nach Alter und Geschlecht, er fragte nach den Gründen für den Selbstmord, er schaute, welche Verletzungen sie hatten und interessierte sich für die Knoten der jeweiligen Schlingen. Nur das Gefühl, das beim Erhängen entsteht, konnte er nicht erforschen. Und so entschied er, sich selbst zu erhängen.

Er und sein Team begannen zunächst mit einfachen ‚Übungen’: Sie drückten sich gegenseitig mit dem Zeigefinger auf die Halsschlagader,

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