Ein Ritter

Bild von W.Haller
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Vor etwa 45 Jahren hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen, da lag er vor mir in seinem Sarg im kleinen Seitenraum der Kampehler Kirche unter einer großen Glasscheibe, Kopf und Körper gleichermaßen braun und abgezehrt und die Lendengegend mit einem weißen Tuch bedeckt. So lässt sich "Ritter Kahlbutz“ seit Jahrzehnten gegen Geld sehen, was ganz sicher ein zweifelhaftes Vergnügen für ihn ist, aber was will er machen bei seiner verzwickten Vorgeschichte aus Zorn und Streit, einem angeblich verhinderten „jus primae noctis“, Mord, Meineid und der Erfüllung einer eigenen Prophezeiung?
Christian Friedrich von Kahlbutz starb 1702 im Alter von 52 Jahren, wurde in der Gruft neben seinen Ahnen beigesetzt und verhielt sich fast 100 Jahre unauffällig, bis eine Kirchenrenovierung ans Licht brachte, dass nur ein einziger Leichnam unverwest erhalten war, und zwar seiner.
Über 300 Jahre liegt er nun da, obwohl keinerlei Mumifizierungsmittel nachweisbar sind, das wurde wissenschaftlich untersucht von solchen Koryphäen wie Virchow und Sauerbruch und schließlich sogar von der heutigen Berliner Charité, wodurch die Aufklärung des zähen Rätsels allerdings bis in unsere Tage keinen Schritt vorangekommen ist.
In so einem Fall helfen bekanntlich Sagen weiter, und die sehr verkürzte Kahlbutz- Saga geht so:
CFK hatte es in der Schlacht von Fehrbellin als 24- jähriger Kavallerieoffizier zu einigem militärischen Ruhm gebracht und dafür das angestammte Gut Kampehl vom Großen Kurfürsten zum Erblehen erhalten. Er galt als cholerischer Streithammel und wurde 1690 des Mordes an einem jungen Schäfer angeklagt, ohne dass es Zeugen der Tat gab. Vor Gericht schwor er seine Unschuld mit dem Eid, seine Leiche möge nicht verwesen, wenn er schuldig sei, und daraufhin wurde er freigelassen, damals zählte das Ehrenwort eines Edelmannes mehr als ein dringender Tatverdacht, und das ist
ja heute auch nicht anders.
So eine Geschichte kann man zwar ins Langzeitgedächtnis schieben und dort quasi vergessen, aber wenn man CFK einmal gesehen hat, wird man seinen Anblick nicht mehr los.
Als ich vor etwa zwanzig Jahren im Auto einige Zeit hinter einem Radfahrer herbummeln musste und ihn endlich überholen konnte, hatte ich ein unheimliches Déjá-vu-Erlebnis, denn wer saß auf dem Rad? Ritter Kahlbutz, oder besser: seine Reinkarnation, hundertprozentig! Alles stimmte, die ganze braungebrannte sehnig- knöcherne Gestalt und vor allem der Kopf mit den großen Augenhöhlen, der stupsigen Hakennase und dem immer etwas geöffneten Mund mit den hell glänzenden Hasenzähnen, das konnten selbst die Yellow-Baseballmütze mit den schwarzen Streifen und die Riesensonnenbrille nicht verbergen.
Es gab für mich keinen Zweifel, er war es, vielleicht hat er sich davongestohlen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und die alten Knochen zu bewegen, die vom langen Liegen ganz steif geworden sind. Und wenn ich nicht ganz sicher gewesen wäre, hätte er selbst das beste Argument geliefert, denn er ist ja dem Reiten treugeblieben und hat sozusagen nur das Pferd gewechselt.
Seine Bewegungen sind zeitlupenartig, und der dichte Autoverkehr interessiert ihn nicht, weil er den aus eigenem Erleben natürlich gar nicht kennen kann. Da fährt er nun mitten auf der engen Waldstraße und zieht lange Autokolonnen hinter sich her, denn Überholen ist wegen des Gegenverkehrs und der vielen Kurven unmöglich. Seine weitere Verkleidung besteht aus einem kleinkarierten kurzärmligen Hemd, unglaublich kurzen hellen Hosen und leichten Sandalen an den skelettierten Füßen. Dieser Ritter der Landstraße und spindeldürre Mörder mit dem Schädel und den knochigen Beinen in Dunkelbraun büßt seine Untat offenbar als ewiger Radfahrer, aber warum gerade hier, dreihundert Kilometer vom Tatort entfernt? Was habe ich mit ihm zu schaffen? Will er mich mit reinziehen in sein selbstverschuldetes Schicksal? Man muss sich vor solchen Typen in Acht nehmen, die sind zu allem fähig!
Einige Jahre lang habe ich ihn mehrere Male getroffen, und dann wieder gar nicht, da dachte ich, er wäre zur Ruhe gekommen und die Sache hätte sich erledigt, aber völlig sporadisch taucht er immer wieder auf. In diesem Jahr habe ich ihn bisher zweimal gesehen, und das Jahr ist ja noch nicht zu Ende. Immer hat er dieses Grinsen, man weiß nicht, wohin er eigentlich fährt, er strampelt selbst steile Berge hoch ohne abzusteigen und überholt dabei Radsportler, die schieben müssen, und dabei ist sein Fahrrad alt und verrrostet und natürlich ohne Schaltung, denn die gab es zu seiner Zeit ja noch nicht.
Ich weiß nicht, ob auch andere ihn sehen oder nur ich, und deshalb kam mir die Idee für einen raffinierten Versuch: Du fährst nach Kampehl und passt auf, ob er wirklich in seinem Sarg liegt, und ich warte hier an der Landstraße, ob er vielleicht grade vorbeikommt, und dann telefonieren wir, das muss doch möglich sein!

2002