Ein Märchen (ma non tanto) mit Fragen

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Es war einmal ein Waisenmädchen, es wohnte in N., in einem Dorf, in der Nähe der Landesgrenze ...
- Dort, wo die hohen Wachtürme immer noch stehen, wo nachts die Scheinwerfer brennen, und wo die Taxifahrer keine Fremden ins Auto nehmen? Ja, so war diese Gegend, wo das Mädchen lebte ... In dieser Gegend kommen die Flüchtlinge in der Nacht über die Grenze, die Leute lassen die Hunde los, manchmal hört man Schreie aus der Ferne, jeder hält eine Waffe im Hof, unter den Betten ist oft ein Gewehr versteckt, in der Scheune wird heimlich elender Schnaps gebrannt, die Grenzpolizei fährt mit schweren Geländewägen ... , ja, genau so ist es dort, denn wie ich schon sagte, das arme Mädchen lebte unweit von der Grenze.
Und dieses Mädchen wollte das Meer sehen.
- Ja, das Meer. Denn sie hatte in einem Buch über das Meer gelesen, über das Rauschen des Wassers, über die Farbe des Himmels, die sich ständig über dem Wasser veränderte, sie hatte auch über die Möwen gelesen, über den Sand am Strand, über die Sonne, die am Meer viel wärmer schien ... Ja, über die Wärme hat sie gelesen.
- Weißt Du wie schön die Wärme doch sein kann? Also, Du weißt es? Dann ist es gut.
Dieses Mädchen lebte am Ufer des Flusses, der auch die Grenze war, und hinter der Landesgrenze war jenes Land, das in der Ferne ans Meer grenzte. Ja, an das Meer. Mit den Wellen, mit dem Wind, mit weißen Wolken am blauen Himmel.
- Mit den Schiffen am verschwommenen Horizont? Mit den Öltankern? Ja, es gibt Menschen, die sehen nur die Öltanker, wenn sie das endlose Wasser beobachten. Wirklich, es gibt solche Leute. Aber dem Meer, dem Ewigen ist das gleich. Der Mensch kam einst aus dem Wasser, so lebt in ihm die Sehnsucht weiter, denn er möchte in das Wasser zurück. In dieses Element, sagst du? Ja, in sein Element. In die Unendlichkeit? Ja, mag sein, dass er dorthin zurück will.
Und das Mädchen sehnte sich nach dem Wasser. Nachts in ihrem Bett schaute sie die Decke an, und dachte an das Meer. Denn dort wäre dann alles gut, sie wäre das enge, kalte Zimmer, ihre nörgelnde Oma, ihre ganzen Sorgen, Ängste los. Dort würde sie ihre Ruhe finden. Dann eines Tages hatte sie eine schlechte Note in der Schule bekommen, sie bekam Streit mit ihrer Oma, nun, an diesem Tag dachte sie, sie habe in jenem Grenzort genug gelebt, es sei an der Zeit. Zum Aufbrechen. Zum Meer.
- Geld? Ja, sie hat Geld mitgenommen ...
Nachts ging sie los. Sie kletterte aus dem Fenster und ...
- Einen Hund? Warum nicht? Ja, du hast recht, sie kletterte aus dem Fenster, lief über den feuchten Rasen, und ihr Hund lief ihr nach, er lief an ihrer Seite.
Und das Mädchen lief geradeaus runter zum Fluss, sie schwamm im kalten Wasser, sie hörte Rufe, in der Ferne leuchtete blaues Licht, irgendwo in der Nähe dröhnte ein Motorboot. Das Mädchen fror, zitterte, am liebsten wäre es umgekehrt, aber dann doch nicht. Warum nicht? Ja, weil sie zum Meer wollte. Zum Meer. Zu den Wellen. Sie erreichte das andere Ufer, sie war nun im fremden Land. Langsam dämmerte es, sie saß am Ufer, und zitterte vor Kälte. Dann kam die Sonne raus, und sie lief los Richtung Osten, und siehe, in dem fremden Land war vieles ähnlich und doch anders. Das Laub der Bäume am Straßenrand war rötlicher, die Landstrasse war schmaler, staubiger, und die Dächer der Häuser waren blasser, verkommener.
- Ärmer? Ja, ärmlicher. Es war ja ein ärmeres Land. Die Verkehrsampeln in der Stadt leuchteten nicht so hell, es gab auch keine Unterführung, keine Brücke, keine Überführung, und die städtischen Busse waren vom Staub bedeckt. Aber es gab schon einen Bahnübergang mit Schranken und Kreisverkehr.
- Und Kinder? Nein, sie sah keine Kinder. Nirgendwo ...
Das Mädchen hatte Hunger, es fror, ja, ihr Geld hat man aber gern genommen, so konnte es in einem Stehimbiss etwas essen. Und während sie da stand und aß, dachte sie, sie könnte doch per Anhalter weiterkommen.
Es wurde langsam wieder dunkel, als am Stadtrand ein LKW hielt und sie einstieg. Es war ein alter, rostiger Wagen, und das kleine Mädchen tat so, als sei es taubstumm, ja, das war eine gute Idee von ihr, deswegen hat der alte Fahrer nichts gefragt. Er streichelte nur den Hund, dann sprach er leise in seiner schönen Sprache. Er sprach zu sich selbst, und so fuhren sie stundenlang durch die Nacht. In der Fahrerkabine war es warm, stickig, der Alte murmelte vor sich hin, leise summte das Radio; der LKW fuhr Richtung Meer.
- Was hatte der geladen? Kühe? Fuhr er zum Hafen? Ich denke, ja.
Nun, so saß das Mädchen in der Kabine, der alte Fahrer brummte vor sich hin, der Hund schlief schon zusammengerollt auf ihrer Seite, draußen war es Nacht, ja, und das kleine Mädchen schlief ein.
- Nein, nein, sie hatte keine Angst. Warum sollte man immer vor den Leuten Angst haben? Jeder ist schlecht? Nein, das glaube ich nicht. Nun, der schlafende Mensch ist ausgeliefert, das ist wahr, aber ... , schlafen bedeutet auch Vertrauen, oder? Und das Träumen? Das ist eigentlich der Sinn des Schlafens, oder?
Es dämmerte, als das Mädchen wach wurde. Der LKW stand an einem leeren Parkplatz, der alte Mann schlief auf das Lenkrad gestützt. Das Mädchen stieg aus, und sie hörte das Rauschen. Das Rauschen des Meeres, das sanfte Dröhnen hinter den Hügeln. Und sie lief los. Sie überquerte die leere Strasse, als eine Stimme sie rief. Eine Kuh rief ihr nach. Vom LKW. Sie solle helfen, bat die Kuh.
- Eine Kuh kann nicht sprechen? Aber ja, jedes Lebewesen spricht, man muss nur zuhören.
Ich bin sehr durstig, sagte leise die Kuh, bitte, tränke mich. Das Mädchen stand verwundert da, woher soll ich denn das Wasser nehmen, fragte sie, und die Kuh nickte mit dem Kopf so, dass das Mädchen verstand, der Fahrer hatte vorne Wasser. Aber das kleine Mädchen hatte Angst. Ich kann es nicht tun, der Alte war so nett zu mir. Das kann schon sein, aber

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