Ich verstehe immer nur Bahnhof

Bild von Monika Jarju
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Auf der Rückfahrt, von einem Vorortbahnhof in Russland, ist die Verbindung nicht so glücklich. Wir warten seit Stunden. Kein Mensch auf dem Bahnsteig. Es herrscht ausgesprochen schönes Wetter an diesem Tag. Wind weht, Bäume rauschen auf. Ein Zug fährt ein. Der Zugführer, ein blonder Äthiopier, steigt kurz aus, wirft einen flüchtigen Blick auf das Abstellgleis, dann fährt der leere Zug Richtung Moskau ab. Was ihn wohl hierher verschlug, ob er Familie, Frau und Kinder hat, überlege ich.
Jetzt fällt mein Blick auf das Abstellgleis, auf den Zug mit den offenen Türen. Wir schlendern hin und steigen ein. Der Zugkorridor, übrigens, ist eine Erfahrung für sich. Er ist mindestens drei Meter breit. Man könnte Betten aufstellen. Da treten aus einer Zugtoilette zwei Männer heraus. Sie schenken uns keine Beachtung. Und wir gehen einfach weiter. Überall leere Abteile. Zwei Waggons weiter verschwinden zwei Männer hastig auf der Toilette. Anscheinend kümmert das niemand. Ich hatte mehr Kontrolle erwartet. Überdrüssig steigen wir wieder aus.
Am Ende des Bahnsteigs hinter einem Tresen sehe ich sie stehen. Zwei Bahnbeamte in Uniform mit Schirmmützen. Sie wirken freundlich. Mir fällt kein Brocken Russisch ein, also spreche ich sie auf Englisch an. „Are you in pension?“, fragt der Beamte zurück. Sehen wir etwa wie Rentner aus? „Yes, we are retired!“, gebe ich verstimmt zu. Er lächelt erfreut. In der Bahnhofshalle, er zeigt nach unten, würden wir eine Physication erhalten. Ich verstehe nicht, was soll das sein? „The train goes to Hamburg“, sagt er. „That‘s okay!“, sage ich froh. Aber auf jede Frage, die ich dann noch stelle, zucken sie mit den Schultern. Kein Fahrplan, keine Anzeigetafel, mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Fährt überhaupt ein Zug nach Berlin? „Thank you very much!“, murmele ich nachdenklich. Und höflich, wie ich nun mal bin, drehe ich mich noch einmal um und rufe ihnen zu: „Большое спасибо, до свидания!“ – Ich erwache in Berlin, ungelogen, am 17. Mai.

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Kommentare

12. Jun 2020

Vielen Dank, auf Wiedersehn -
Dein Text kann auch bei Tag bestehn!

LG Axel

12. Jun 2020

Gute Weiterfahrt!

LG Monika

13. Jun 2020

...so lange man noch zur rechten Zeit am rechten Ort erwacht,
ist die Sache fein ausgemacht...

LG Monika