Ihr Blick fällt vom Fenster im ersten Stock auf den Vorplatz, der den beiden Hauseingängen etwas Gemeinschaftliches verleiht.
Müde wendet sie sich ab, als würde es sie Überwindung kosten, dieses Bild, das sie seit mehr als 50 Jahren in- und auswendig kennt, auszublenden und zu verlassen. Aber es ist nicht das Gewohnte, das sie schmerzt, es ist in diesem Jahr das Andere, das nicht für möglich Geglaubte, das Unabdingbare, wie es schien, was ihr Gemüt im Kummer ertränkt.
Ihre Eltern hatten davon erzählt, wie es nach dem Krieg gewesen war, als die Leute aufs Land drängten, um ein paar Dinge einzutauschen und im Rucksack nachhause zu schleppen. Vieles, was ein wenig an Wert besaß, ging für ein Stück Lebensmittel diesen Weg. Sie war damals noch zu klein, als dass ihre Erinnerungen davon getrübt waren.
Im Hintergrund gab der Fernseher von sich, was sie längst nicht mehr bewusst wahrnahm. So viele Leute sagten Dinge, die sie kaum besser verstanden als ihr Publikum. Da wird es eben zur Gewohnheit und die Menschen hören das Gesprochene nicht mehr. Wie ein Rauschen macht es sich im Kopf breit, dringt aber nicht mehr durch auf jene Ebene, die das Verstehen hätte ausloten können. Das Gehirn ist voll und schaltet ab. Um Neues aufzunehmen, müsste Altes erst gelöscht werden.
Sie versteht nur schwer, was ihr zugemutet wird. Keine Besuche, fremde Leute stellen Einkäufe vor die Tür, Nachbarn, die für sie das Nötigste besorgen. Das Geld schiebt sie im Kuvert durch einen Spalt. Kinder hat sie zwar, aber die wohnen weit entfernt und können sie nicht mehr besuchen oder dürften es auch nicht.
Alleine ist sie, was soll werden?
Früher war Ostern immer ein fröhliches Fest gewesen. Die ganze Familie war zusammengekommen.
In diesem Jahr nicht!
Traurig schaltet die Frau den Fernseher aus. Sie kann und will es nicht mehr hören. Plattitüden, Phrasen, Wichtigtuerisches. Nichts, was sie wirklich verstand oder betraf. Zahlen, die ihr nichts sagten. Einmal, als sie noch aufmerksam zugehört hatte, war ihr ein Licht aufgegangen. Man müsse die Krankenhäuser und überhaupt das ganze System auf den erwarteten Ansturm von Kranken vorbereiten.
Das hatte sie sogleich verstanden!
Die Alten sind aufgefordert, einen Teil der Probleme zu schultern. Wir werden uns nicht verweigern und wohl auch kaum dagegen wehren, können. Wir werden ertragen, müssen, was den Jüngeren nicht zu Teil werden soll. Wir tun, was wir heute oft auch schon tun. Wir bleiben zuhause, während die anderen zur Schule, Universität oder Arbeit gehen. Wir werden krank, wie vordem auch, jedoch nicht oder selten wegen des Virus, dieses Virus. Wir werden der Umstände wegen an Dingen erkranken, von denen wir bisher verschont waren. Und wenn wir Glück haben, ist noch jemand zur Stelle, für uns, es sei denn, der Ansturm in den Kliniken, im gesamten System ist größer als die Virologen, Mediziner und Politiker es heute zu denken vermögen.
Kein Fernseher, kein Lärm auf der Straße, keine spielenden Kinder. Sie hörte Vögel zwitschern, ein verhaltenes Lachen aus einem der geöffneten Fenster, einen Streit von irgendwo her, laute Musik.
Die Frau greift ein Buch. Ein paar Seiten nur, dann nickt sie im Sessel ein.