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weckte die Entdeckung doch meine Neugierde, zumal uns Mutter so eindringlich vor Nick gewarnt hatte. Trotzdem schwieg ich zu Hause darüber und Marie ließ sich ebenfalls nichts anmerken. Nach dem Essen ging sie hinauf in ihr Zimmer und hörte Musik.
Dies war der erste Augenblick meines Lebens, in dem mir ein Freund fehlte. Ich musste das Gesehene mit jemand teilen und ahnte instinktiv, dass meine Eltern dafür nicht in Frage kamen. Es platzte fast aus mir heraus und ich wusste mir bloß dadurch zu helfen, dass ich Marie des Abends fragte:
„Wie war denn heute dein Ballettunterricht?“
Meine Schwester stierte mich an.
„Seit wann interessierst du dich denn dafür?“ entgegnete sie forschend und ich glaubte, einen Zug der Unsicherheit in ihrem Gesicht zu erkennen.
Diese Erkenntnis tat mir gut. Endlich wusste ich etwas von ihr, was sie nicht mit ihrer Überheblichkeit abtun konnte und mit einem Male waren wir wieder auf Augenhöhe.
„Nur so“, zuckte ich mit den Achseln und lächelte dabei.
Marie sagte nichts weiter, aber ich bemerkte, wie sie mir noch einige verstohlene Blicke zuwarf, ehe wir zu Bett gingen.
Die Tage bis zum nächsten Ballettunterricht krochen dahin. Marie gab sich so wie immer. Doch wenn Nick mit seinem Motorrad an unserem Haus vorbeifuhr, wusste ich, dass sie ihn von ihrem Zimmerfenster aus beobachtete.
Ich war fest entschlossen, den beiden heimlich zu folgen, doch wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte. Nick, auf seiner Maschine, war zu schnell für mich, und wäre ich Marie nachgegangen, so hätte sie mich sicherlich entdeckt. Ich hoffte, dass sie den Imbiss als ihren geheimen Treffpunkt auserkoren hatten, und kaum dass Marie mit ihrem Rucksack das Haus verließ, rannte ich durch die Stadt hinüber zu meinem Spähposten. Ich wartete eine Stunde, aber sie kamen nicht, und als es dämmerig wurde, zog ich enttäuscht ab.
Abends glaubte ich ein Lächeln um Maries Mund zu erkennen. Sie musste gewusst haben, dass ich auf der Lauer lag und hatte sich mit Nick woanders getroffen. Es schmerzte mich zutiefst, und für einen Augenblick dachte ich daran, sogar der Mutter etwas zu erzählen. Doch hatte ich ein neues, aufregendes Spiel gefunden und war nicht gewillt, es so leichtfertig aufzugeben.
In den nächsten Wochen bemühte ich mich, Marie und Nick wieder zu entdecken. Es gelang mir nicht. Wenn Marie keinen Ballettunterricht hatte, fand ich Nicks Motorrad vor dem Billardsalon. Doch war Marie unterwegs, so tauchte es dort nicht auf. Auch vor dem Imbiss war es nicht mehr zu entdecken und nach einer Weile begann ich damit, die ganze Stadt zu durchforsten, immer in der festen Überzeugung, die Maschine irgendwo abgestellt zu finden.
Es dauerte bis in den Mai hinein, als ich sie schließlich an einer Scheune etwas außerhalb der Stadt entdeckte. Nick hatte sie seitlich unter einen Bretterverhau geschoben, dass sie von der Straße aus nicht zu sehen war, und wäre ich meiner Vorliebe für Abkürzung durch das Gelände nicht gefolgt, so hätte ich sie niemals gefunden. Schon als ich sie erblickte, gab es keinen Zweifel. Während all meiner Zeit, in der ich sie durch das Fenster des Elternhauses und später vor dem Billardsalon beobachtete, hatte sich die Maschine so in mein Gehirn eingeprägt, dass ich sie überall wiedererkannt hätte, selbst wenn sie in dieser Gegend völlig unpassend schien.
Die Scheune gehörte zu einem der Höfe des Umlandes, wurde aber seit Jahren nicht mehr benutzt. Während meiner Erkundungstouren war ich nie so weit außerhalb der Stadt gewesen und so wusste ich nichts Genaues über sie. Nun aber sah ich, dass sie sicherlich über zwei Stockwerke lag. Das große Eingangstor war verschlossen. Drüber klebte eine kleine Luke an der Vorderfront, aus der früher die Heuballen eingelagert wurden. Dieses imaginäre Heu beflügelt die nun auch bei mir aufkeimende Phantasie. Das Holz der Scheune begann bereits langsam zu vermodern und Unkraut wucherte überall herum. Dies alles aber mochte der Bequemlichkeit des Heubodens nichts ausmachen.
Ich lief nach Hause. Es war schon spät geworden und für diesen Tag war die Entdeckung des Versteckes genug Triumph für mich. Beim nächsten Ballettunterricht aber würde ich direkt zu der Scheune eilen und sicherlich entdecken, was Marie und Nick dort trieben. An diesem Abend konnte ich kaum schlafen.
Marie war so wie immer. Das heißt, sie ignorierte mich und hörte Musik in ihrem Zimmer. Vater hatte sich ob ihres Aufzuges langsam beruhigt und Mutter meinte, sie wäre ein so vernünftiges Mädchen. Sie beide wussten eben nichts von der Existenz der Scheune. Doch irgendwann, da war ich mir sicher, würde ich es ihnen schon unter die Nase reiben, und dafür war es notwendig, die Marie und Nick zu beobachten.
So hatte ich meine Schuhe bereits angezogen, als Marie wieder einmal ihren Rucksack nahm und zum angeblichen Ballettunterricht loszog. Kaum war sie aus dem Haus, rannte ich so schnell es ging durch die Stadt. Doch als ich bei der Scheune ankam, stand das Motorrad bereits in seinem Versteck. Ich wartete eine Weile im Gebüsch, damit ich nicht doch durch einen dummen Zufall entdeckt wurde und erst als ich sicher vermutete, Nick und meine Schwester würden längst schon die Leiter zum Heuboden erklommen haben, schlich ich mich vorsichtig an.
Die Dornen der wilden Ranken schlitzten meine Hose auf, während ich mich durch das Gebüsch schob, und meine Haut begann nach dem Kontakt mit den Brennnesseln bereits zu jucken. Doch all diese Widrigkeiten konnten mich nicht von meinem Plan abbringen. Ich ließ mir Zeit, damit nicht ein verräterisches Geräusch in die Scheune zu dringen vermochte und langsam, erst nach einer Ewigkeit, erreichte ich die Bretterwand. Nun begann ich, einen Spalt zum Hindurchschlüpfen zu suchen. So vermodert das Holz auch war, ich fand ihn nicht.
Ich hoffte, auf der Rückseite mehr Glück zu besitzen, und kroch vorsichtig ich die Wand entlang. Doch das Einzige, was ich bemerkte, war ein fauliges Astloch. Obwohl ich sicher war, dass die beiden sich längst schon auf dem Heuboden befanden und es von hier aus nichts zu sehen gab, konnte ich meine Neugierde nicht unterdrücken und lugte hindurch.
Da sah ich Marie. Sie stand in der Mitte der Scheune und hatte ihre Jeans und Sweatshirt ausgezogen. Stattdessen trug sie Leggins und Trägershirt, mit der sie auch im Ballettunterricht tanzte. Sie stand auf einem Fuß, hatte die Hände hoch über ihren Kopf gefaltet und schaute verzückt zu ihnen empor. Jetzt lugte an ihrer Taille ein Kopf hervor und gleichzeitig fassten sie Hände an den Hüften. Sie hoben Marie empor und drehten sich mit ihr im Kreis.
Der Mann trug ebenfalls Leggins und ein T-Shirt. Ohne seine Lederjacke erkannte ich ihn fast nicht wieder. Es war Nick. Er schaute zu Marie hinauf und setzte sie nun sanft wieder auf den Boden, ergriff ihre Hand und beide Körper wiegten sich sanft in der leisen Melodie, die durch das Astloch hinüber zu mir schwebte.
Dann unterbrach Marie die Bewegung und redete auf Nick ein, der ihr aufmerksam zuhörte. Es war, als erkläre sie ihm etwas, und kaum hatte sie geendet, begann sie von neuem die Figur zu tanzen.
Ich war starr vor Entsetzen. Alles, was ich mir vorgestellt oder vielleicht auch nur vage ausgemalt hatte, war nichts gegen das, was ich nun sah. Mein wilder Bursche tanzte Ballett. Es war mehr, als mein junges Herz ertragen konnte und ich vergaß alle Vorsicht. Unvermittelt sprang ich aus meinem Versteck und rannte durch das Unkraut hindurch zurück zur Stadt.
Ich muss wohl recht zerlumpt ausgesehen haben, als ich zu Hause ankam und meine Mutter fragte mich sofort besorgt, was denn geschehen sei. Ich war noch zu verwirrt, als dass ich mir eine Geschichte auszudenken vermochte und erzählte ihr, was ich gesehen hatte.
Meine Mutter verzog keine Miene.
„Geh nach oben und wasch dich ordentlich“, befahl sie mir.
Als ich aus der Dusche kam, hörte ich die Haustür schließen und wusste, dass es Marie sein musste. Ich wollte zum Treppenabsatz schleichen und hören, wie Mutter mit ihr schimpfte, aber da kam meine Schwester schon die Treppe hinauf und ich blieb im Badezimmer.
Den ganzen Abend über wurde über den Vorfall nicht gesprochen. Doch als ich ins Bett gehen wollte, folgte mir mein Vater. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und sagte:
„Man spioniert niemanden nach.“
Ich konnte nichts darauf erwidern. Mein Vater strich mir über den Kopf und murmelte:
„Gute Nacht“.
Dann stand er auf und verließ das Zimmer. Nun hörte ich leise Stimmen unten aus dem Wohnzimmer. Aber ich traute mich nicht mehr, aufzustehen.
Am anderen Tag sah Marie mich boshaft an, aber auch sie sagte nichts, wie dieser Vorfall überhaupt nicht mehr in unserem Hause erwähnt wurde.
Eine Weile noch hörte ich Nick mit seinem Motorrad an unserem Haus vorbeiknattern. Aber ich beobachtete ihn nicht mehr durch das Fenster. All jene Vorstellungen, die ich mit seiner Person verband, hatten sich nach der Entdeckung in der Scheune in Luft aufgelöst und mein Interesse an ihm war erloschen.
Dann, eines Tages, aber kam er nicht mehr, und meine Mutter erzählte mir, dass er nach Berlin gegangen sei. Er hatte sich an einer Tanzschule beworben und sei angenommen worden. Marie war es gewesen, die ihm den Mut gegeben hatte, seiner wahren Bestimmung nachzugeben. Nick habe schon immer diese Leidenschaft besessen, doch sich nicht getraut, sich in der Ballettschule anzumelden. In unserer Stadt blieb nichts lange ein Geheimnis.