Der Ballettunterricht

Bild von Magnus Gosdek
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In unserer Stadt blieb nichts lange ein Geheimnis. Dafür war sie zu klein. Hier kannte man einander und nichts bereitete den Einwohnern so viel Vergnügen, wie die Befriedigung der menschlichen Neugier. Auch Nick hätte das wissen müssen und vielleicht tat er es auch. Es interessierte ihn aber nicht. Für ihn hatte es keine Bedeutung, so wie wahrscheinlich alles, was ihm hier widerfuhr.
Nick war zehn Jahre älter als wir und wohnte noch bei seinen Eltern in der Nachbarschaft. Jeden Tag sahen wir ihn, wenn er sich auf sein Motorrad schwang und den Motor aufheulen ließ, während er durch die Straße fuhr.
„Das ist ein Angeber. Haltet euch fern von ihm“, sagte unsere Mutter dann immer wieder.
Dabei war diese Mahnung völlig überflüssig. Selbst wenn wir gerne Nicks Nähe gesucht hätten, er gab sich mit uns nicht ab. In seinen Augen mochten wir einer Streberfamilie entstammen, und sowohl meiner Schwester als auch mir blieben einzig die neugierigen Blicke, die wir von unserem Wohnungsfenster aus auf die Straße warfen, während Nick an uns vorbeiknatterte.
Marie war ein Jahr älter als ich, und da sich seit neuestem ihr Körper zu dem einer Frau entwickelte, war sie der Meinung, mir überlegen zu sein. Meist äußerte es sich in einem Streit, den sie vom Zaun brach und mit dem Urteil „du bist noch viel zu jung!“ abschloss. Ich ärgerte mich über sie und, sooft es ging, versuchte ich fortan ihre Nähe zu meiden. Mutter meinte, das wäre die Pubertät und Vater sagte gar nichts dazu. Ich nahm mir jedenfalls vor, falls dieses Gehabe meiner Schwester für den Übergang zum Erwachsenensein normal sei, niemals in die Pubertät zu kommen.
Neben ihrer körperlichen Entwicklung war eine der Veränderungen, die ich an Marie entdeckte, ihr gesteigertes Interesse an Nick. Während wir früher gemeinsam aus dem Wohnzimmer spähten, um einen Blick auf seine Maschine zu erhaschen, blieb Marie nun meist oben in ihrem Zimmer und sah allein zu ihm hinunter. Dies war der Augenblick, in dem ich entschied, Nick nicht mehr zu mögen. Trotzdem lauschte ich ebenfalls weiterhin nach dem Geräusch des Motors.
Unsere Eltern waren beide Lehrer am örtlichen Gymnasium, was sowohl Marie als auch mir einige schwierige Jahre in der Schule bescherte. Wir beide waren verdächtig, Spitzel für unsere Eltern zu sein, und da unsere Leistungen obendrein überdurchschnittlich waren, hatten wir an der Schule kaum Freunde. Für Marie war es nicht so schwer wie für mich. Dreimal in der Woche ging sie zum Ballettunterricht und hatte sich dort einen Freundeskreis aufgebaut, mit dem sie ihre Nachmittage verbrachte.
Ich hingegen hatte nicht solch ein Glück, war weder sportlich, noch mit sonstigen Eigenschaften ausgestattet, die mich in eine spezielle Interessensgemeinschaft einführten. Meist blieb ich zu Hause, und die übrige Zeit stromerte ich allein durch die Stadt und machte mir ein Vergnügen daraus, nach Nicks Motorrad Ausschau zu halten.
Lange brauchte ich nie zu suchen. Fast immer stand es vor der einzigen Billardhalle der Stadt. Nick hatte keine Arbeit, und die meiste Zeit verbrachte er dort an den Pool-Tischen. So wie man munkelte, sollte er ein guter Spieler sein, und in meiner Phantasie sah ich ihn in seiner lässigen, unnahbaren Art um den filzbezogenen Tisch schlendern. Um uns abzuschrecken erzählte Mutter einmal, dass er die Schule abgebrochen und auch die Lehre nicht beendet habe. Sie konnte nicht ahnen, dass gerade diese Eröffnung ihn in meinen Augen äußert interessant machte.
Nick trug immer eine abgeschmackte Lederjacke, so wie ich es aus alten Filmen von Marlon Brando her kannte. In dieser Stadt, die sich entschieden entschlossen hatte, bürgerlich zu wirken, war er der unangepasste Außenseiter, was ihn ebenso verdächtig wie mich machte, freilich aus anderen Gründen.
Sobald ich sein Motorrad entdeckt hatte, trieb ich mich auf dem gegenüberliegenden Parkplatz herum und wartete, dass Nick die Billardhalle verließ. Manchmal wurde es dunkel, dass ich meinen Beobachtungsplatz unverrichteter Dinge aufgeben musste. Oft aber kam Nick früher heraus, schwang sich ohne Umschweife auf seine Maschine und knatterte auf der Straße davon.
Ich habe Nick nie in Begleitung gesehen, was in mir die Vorstellung nährte, dass er jenem einsamen Wolf glich, den Brando in den Filmen gespielt hatte und mir nicht ganz unähnlich schien. Trotzdem waren alle in der Stadt der Überzeugung, dass Nick in schlechte Gesellschaft geraten sei, ohne je eine Beweis dafür zu finden.
Marie hatte damit begonnen, sich mehr für Anziehsachen zu interessieren. Nun fand sie es passend, kurze Röcke zu tragen, was meinen Vater in den Wahnsinn trieb und zu einigen heftigen Auseinandersetzungen führte, was Marie jedoch nicht davon abhielt, sich stundenlang vor dem Spiegel zu schminken. Nur wenn sie zum Ballettunterricht ging, war es ihr nicht so wichtig. Dann zog sie ihre alte Jeanshose an, nahm ihren Rucksack und verschwand für ein paar Stunden in ihre eigene Welt. Sie ging immer zu Fuß, verbrachte nach dem Unterricht noch Zeit mit ihren Freundinnen und kam erst gegen acht Uhr nach Hause. Mutter meinte, es sei beruhigend zu wissen, dass sie sich für eine Sache weiterhin so begeistern könne.
Ich hingegen begriff nicht, wie man sich für das Ballett interessieren konnte. In solch seltsamem Trikot auf Zehenspitzen zu tanzen, war für mich unvorstellbar. Da stromerte ich lieber durch die Stadt und hielt nach Nicks Motorrad Ausschau.
Eines Tages fand ich es überraschenderweise vor einer Imbissbude, und dies erweckte meine Neugierde umso mehr, da es wirklich selten vorkam. Immerhin, so dachte ich, würde Nick sicherlich dort früher als aus dem Billardsalon herauskommen, was er auch wirklich tat. Doch dieses Mal war er nicht allein.
Ich hatte an der gegenüberliegenden Straßenecke Posten bezogen, doch erkannte ich sofort jene gewellten blonden Haare, die meine Schwester seit einiger Zeit so gern offen trug. Während Nick auf sein Motorrad stieg, blieb sie neben ihm stehen und beide redeten noch eine Weile miteinander. Obwohl ich glaubte, sie würden sich bald umarmen oder gar küssen, so geschah doch nichts von alledem. Nick senkte nur einmal zustimmend den Kopf und trat dann den Kickstarter herunter. Während er die Straße entlangfuhr, sah Marie ihm nach. Dann aber schlenderte sie den Bürgersteig entlang nach Hause.
Hatte ich für solche Romanzen auch noch keinen rechten Sinn, so

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Kommentare

13. Okt 2016

Worte, Bilder tanzen mit -
Dieser Text ist wirklich fit!

LG Axel

13. Okt 2016

Doch was ich soeben sah,
noch besser ist Dein Kommentar.
LG Magnus

14. Okt 2016

Bin fasziniert durch die Zeilen gerannt. Eine spannende Nick-Geschichte. Die Text-Melodie gefällt mir sehr gut. Nick und Marie erinnern mich an Etwas...
LG Monika

14. Okt 2016

Wunderbar, dass Dir die Melodie gefällt. Ich möchte immer eine Melodie erzeugen und es ist schon, dass zu es so ausdrückst. LG Magnus

15. Okt 2016

Meisterhaft, wie gekonnt du (mal wieder) Spannung aufbaust, obwohl scheinbar "gar nichts" passiert.
Dabei "passiert" so viel, im Hintergrund, zwischen den Zeilen, im Kopf des Lesers - toll!

17. Okt 2016

Habe ich sehr gern gelesen, der Kaffee ist kalt geworden - eine wunderbare zarte Geschichte.
Herzliche Grüße,Susanna

17. Okt 2016

Vielen Dank, noé und Susanna. Ich finde es wunderbar, dass Euch die Geschichte gefällt. Lieben Gruß Magnus

17. Okt 2016

Habe zwei ältere Schwestern . . . sehr sehr schön.
ulli

18. Okt 2016

Dann kannst Du das sicher nachempfinden. Danke, Ulli, für Dein Urteil. LG Magnus

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