Heute befragten wir einmal Professor Dr. Scheusal nach den Errungenschaften der Zeit. „Sind wir tatsächlich den archaischen Grundlagen zur Beurteilung von Lebewesen entschlüpft?“ erfrechte sich unser Reporter zu recherchieren, denn er selbst konnte sich keinen Reim mehr auf die neuen Lehrsätze machen. Aber der Professor lächelte nur ...
Das erstaunte unseren Reporter ein wenig, und er versuchte, sich dem Gelehrten von einer anderen „Seite“ zu nähern. Wissen sie, früher verließ man sich auf etwas, das „Menschenkenntnis“ genannt wurde. Es kam nicht alleine aus dem Verstand, sondern auch aus den gesunden Instinkten, von denen wir glaubten, sie seien zu Recht über Jahrtausende gewachsen. Der Professor lächelte, erwiderte aber nichts ...
„Ja“, rief nun der Reporter – sein Name ist übrigens Emil Ehrlich - „wir glaubten doch tatsächlich, aus dem Äußeren die inneren Werte ableiten zu können. So erschraken wir, wenn jemand wie der Leibhaftige aussah – wenn er verschlagene Augen hatte, widerlich verbogene Gesichtsfalten, die wir für die Auswirkungen von hämischem Grinsen hielten, und dabei hat das, neuesten Forschungen zufolge, gar nichts zu bedeuten?“ Dr. Scheusal nickte gemütlich, sagte aber nichts ...
„Gab es damals nicht diverse Merkmale, die uns verrieten: Dieser Mensch besitzt eine äußerst unangenehme Ausstrahlung“, versuchte Emil den Scheusal aus der Reserve zu locken – und der sagte diesmal tatsächlich etwas: „Es gibt keinerlei charakterliche Unterschiede zwischen den Individuen des Homo sapiens, da kann er aussehen, wie er will – es kommt nur auf seine Verwendbarkeit an!“
Ehrlich erschrak! Wie sehr hatte er sich doch in sich selber getäuscht ... gestern hatte er eine Menge menschenähnlicher Individuen auf der Straße gesehen, nein, beobachtet, und er hatte regelrecht Angst vor ihnen bekommen, denn sowohl ihr Aussehen wie auch ihr Handeln (auf das wir hier nicht näher eingehen wollen) hatte ihn irritiert. Sie hatten ihn mit seltsam hasserfüllten Blicken fixiert, so als sei er schon so gut wie tot, aber das war wohl dann eine Täuschung gewesen ...
„Alles, was sie denken, ist eine Täuschung!“, begann der Professor nun zu dozieren, so, als hätte er die Gedanken Ehrlichs in seinem Gesicht gelesen, was aber anscheinend ja gar nicht möglich war, weil man vom Äußeren Anschein ja nicht auf das Innere schließen kann, soll, darf. „Es ist überhaupt alles eine Täuschung, was durch Denken, ohne die entsprechenden Vorinformationen zu erfahren ist“.
Unser Reporter muss wohl sehr stark verunsichert gewirkt haben, den nun war Professor Dr. Scheusal nicht mehr aufzuhalten ... „nur wer sich vorher informiert hat, was gerade denkbar und was gerade undenkbar ist, wie man sein Gehirn zu benützen hat, der ist auch in der Lage, sich ein Urteil zu bilden, das keine Vorurteil ist, denn Vorurteile haben nichts mit Urerfahrungen zu tun, sondern entspringen ausschließlich dem Irrtum der Unangepasstheit!“
Dann lächelte er wieder gemütlich und jeder, der noch nicht gelernt hatte, in den neuen Bahnen zu denken, hätte dieses Lächeln wohl für ausgesprochen falsch gehalten. Aber allein daran ist bereits zu erkennen, wie sehr man sich doch täuschen kann, wenn man sich auf den „gesunden Menschenverstand“ verlässt, der früher einmal eine ausgewogene Mischung aus persönlichen Überlegungen und Intuition gewesen ist.