Einen Schutzengel wünsche ich dir

Bild von Lena Kelm
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Zurückgekehrt aus dem Urlaub stehe ich auf einem U-Bahnhof
ohne Fahrstuhl. Also muss ich wohl oder übel die Treppen
hochsteigen mit meinem prallen schweren Koffer. Hochtragen
kann ich ihn nicht wegen meines kaputten Knies. Ich werde ihn
hinter mir herziehen müssen, Treppe für Treppe. Passanten eilen
an mir vorbei. Junge Leute nehmen mehrere Stufen auf einmal.
So bin ich mal auch gehüpft, denke ich mit Wehmut. Aber
damals gab es nicht so viele Treppen. Nach einem tiefen
Seufzer steige ich auf die erste Stufe, hieve den Koffer hoch
– geschafft! Nun werde ich mutiger. Zeit habe ich ja. Nach
der dritten Stufe muss ich verschnaufen.
Plötzlich fragt mich ein junger Türke: „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ach, junger Mann, der Koffer ist zu schwer. Ich schaffe
das schon“.
Da greift der junge Mann schon nach meinem Koffer.
„Mache ich gerne.“
Im Nu ist der Koffer oben. Er wartet noch auf mich.
„Danke! Vielen, vielen Dank. Bleiben Sie gesund!“, rufe ich
dem Davoneilenden nach.
Zweifel überkommen mich. Wünscht man das nicht alten
Menschen? Hätte ich ihm nicht eher sagen sollen, dass er so
bleiben möge? Zu spät! Ein abgedroschener Spruch. Vielleicht
sehe ich den jungen Helfer in Not eines Tages wieder? Dann
werde ich ihm sagen, wie dankbar ich an ihn denke und ihm
einen Schutzengel wünschen. Noch so ein alter Spruch. Doch
geht es mir nicht um Worte, sondern um Gefühle. In welcher
Form sie ausgedrückt werden, ist nebensächlich.
Ist Dankbarkeit altmodisch, was meinen Sie?

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