Ein Mann in leitender Stellung - Page 2

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etwas geschwollen ausdrücken darf. Aber nun zurück in die bedrückende Wirklichkeit! Allem Anschein nach sind Tat- und Fundort identisch, und der feuchte Boden weist weiträumige Kampfspuren auf oder wurde besser gesagt, so umgewühlt, als ob dort Wildschweine oder Raubtiere am Werk gewesen wären. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch Biss- und Fressspuren an den toten Körpern, aber es waren auch glatte Schnitte vorhanden, die nur von einem großen scharfen Messer stammen konnten. Es war das gleiche Verwirrspiel, das mich vor ca. drei Jahren meinen bis dahin untadeligen Ruf als erfahrener Ermittler und meinen Job gekostet hat. Hier muss ich nochmals zurückgreifen, damit du die Zusammenhänge besser verstehen kannst, also, damals wurden ausschließlich DNA-Spuren gefunden, die auf mich hinwiesen, und das war nur einem Zufall zu „verdanken“, denn es war wirklich reiner Zufall, dass meine DNA überhaupt bekannt und zuordenbar war. Nur so viel: Eine Sekretärin hatte mich etwa ein Jahr zuvor beschuldigt, sie bei einer Begegnung im Kopierraum in den Hals gebissen zu haben, eine reine Unterstellung, um sich wichtig zu machen und zu rächen, weil ich auf ihre eindeutigen Nachstellungen nicht entsprechend reagiert hatte. Rein formal wurde deshalb ein DNA-Test bei mir gemacht, der jedoch zu keinen weiteren Problemen für mich führte. Die Sekretärin erhielt eine Abmahnung, kündigte kurz darauf und zog weg, was ich als Erleichterung empfand.
Es ist seit etwa einem Jahr übrigens Standard, dass die DNA aller an einem Fall Beteiligten, also auch sämtlicher ermittelnden Personen, in die Falldatei eingespeist wird, und dieser Standard ist in Fachkreisen mit meinem Namen verbunden, ein sehr zweifelhaftes Vergnügen.
Ich hoffe für uns beide, dass du meinen Ausführungen bis hierher folgen konntest und meine sehr schwierige Situation irgendwie begreifst. Und noch wichtiger ist, dass du den jetzt folgenden Bericht verinnerlichst. Also: Als Innendienstmitarbeiter des Raubdezernates habe ich etwa ein Jahr nach meiner Zwangsversetzung einen Brief an einen Mann geschrieben, der etwa 630 Kilometer entfernt wohnte und als unauffälliger Beamter einer Umweltbehörde tätig war. Er wurde mir bekannt, als ich im Internet nach empathisch veranlagten Menschen mit ausgeprägtem Helfersyndrom suchte, und ich bekam auf diese Weise seine Mail- Adresse. Nach einigen freundlichen Ping-Pong- Mails beschlossen wir, uns auf herkömmliche Art zu schreiben, und das war für mich der Schlüssel für einen gewaltigen Befreiungsschlag, den ich dringend nötig hatte. Ich hatte übrigens bei allen Kontakten rein vorsichtshalber eine Deckadresse und einen erfundenen Namen benutzt, das wirst du in Kürze nachvollziehen können. Mein erster und einziger Brief an ihn begann etwa so: Ich werde kämpfen bis zu meinem letzten Atemzug. Mein schlimmstes Problem ist, dass ich mich bisher niemandem offenbaren konnte, aber das ist jetzt glücklicherweise anders. Wenn du diese Zeilen gelesen hast, bist du meine Rettung. Dir vertraue ich alles an, meine gespaltene Seele, mein Doppelleben, meine unfassbaren Verbrechen, meine Feigheit. Du wirst mir tragen helfen, du trägst jetzt meine Schuld mit, denn du kannst nicht anders. Ich kenne dich, aber du weißt nicht, wer ich bin, und du wirst es auch nicht erfahren. Ich habe dich nicht zufällig zu meinem Mitwisser gemacht, ich habe dich lange vorher beobachtet und weiß, dass du ein anständiger Mensch bist, aber auch du hast sehr persönliche peinliche Geheimnisse, die bei Strafe deines moralischen Unterganges niemand erfahren darf. Damit du merkst, dass ich nicht bluffe, gebe ich dir dafür ausreichende Beweise…
Mein Brief war, ohne mich brüsten zu wollen, sehr geschickt angelegt, und seine „persönlichen Geheimnisse“ waren regelmäßig in den fünf Seiten langen Text eingeflochten. Er würde ihn ganz sicher mehrmals lesen und einige Zeit brauchen, um sich zu einem Entschluss durchzuringen. Deshalb hatte ich ein Spezialpapier mit einer semiorganischen Halogensäure behandelt, die eine Zerfallszeit von etwa 3 Tagen garantierte, nach dieser Karenzzeit würde man nur grauen Staub vorfinden. Das ist übrigens eine Methode, die sich bei modernen Nachrichtendiensten tausendfach bewährt hat. Ich habe ihm über mein Leben, meine Veranlagung, meine diesbezüglichen Taten, soweit sie mir überhaupt bewusst waren, so detailliert und sachlich wie möglich berichtet und weder mich noch ihn geschont. Ich war ganz offen und habe mich als jemand geoutet, der durch werwölfische Züge zu sporadischen rauschhaften Menschenfressattacken gezwungen ist und, nebenbei gesagt, das auch will und braucht. Aber ich bin auch mit gegenteiligen Eigenschaften ausgestattet, mit Empathie und Reue, mit zu-tiefst menschlichen Zügen wie Zuverlässigkeit, Dankbarkeit, Pflichtgefühl und Disziplin. Es gelingt mir nur nicht, beides in mir zu vereinen, wie es fast alle anderen können, ich bin zugleich der Eine und/oder das Andere, und ich will und kann nicht gegen mein Naturell ankämpfen, weil es zwecklos ist, das weiß ich seit meiner Jugend, und es ist viel geschehen, was glücklicherweise nie ans Licht gekommen ist. Natürlich bin ich auch auf den damals überall in den Medien diskutierten Doppelmord eingegangen, habe jedoch meine Täterschaft nicht zugegeben, sondern sie nur als Möglich-keit angedeutet, etwa so, als wüsste ich es selbst nicht genau. Der Brief enthielt noch einige psychologisch wirksame Tricks, wie man sie als Ermittler lernt, aber die sollen uns hier nicht weiter be-lasten, und zu meiner Rehabilitation muss ich noch sagen, dass ich keinerlei gezielten Druck auf ihn ausgeübt habe, keine Handlungshinweise, Drohungen oder Vorschläge für Aktionen seinerseits, noch nicht einmal eine Bitte um Hilfe. Und ich habe ihn beobachtet, was bei der großen Entfernung sehr schwierig für mich war, denn ich konnte unsere Dienste natürlich nicht mit seiner Observation beauftragen, ohne mich zu demaskieren. Deshalb musste ich zu solchen und noch anderen perfiden Mitteln greifen, was sonst nicht meine Art ist.
Er hat lange mit sich gerungen und schließlich nichts anderes unternommen, als sich umzubringen. Bis dahin ein einigermaßen normaler Mensch, wurde er innerhalb weniger Tage depressiv und beging einen unspektakulären Suizid, ohne etwas zu hinterlassen. Das ist tragisch. Ich bin ihm sehr dankbar, und auf seinem frischen Grab lag eine Rose von mir.
Meine Verbrechen sind nicht nur gesühnt, sondern gingen mit ihm, sozusagen als meinem Sündenbock, in sein Grab. Er hat die Schuld von mir genommen und verwahrt sie nicht als mein, sondern als sein Geheimnis, dadurch bin ich unendlich erleichtert und frei.
Obwohl mich der damalige Fall bis heute nicht losgelassen hat, bin ich natürlich nicht pausenlos damit beschäftigt, aber die Frage nach dem Wie und Warum der Asservatenvergiftung mit meiner DNA ließ mich einerseits ebenso häufig wie erfolglos grübeln, aber andererseits wusste ich in meinem tiefsten Innern natürlich, was wirklich passiert war, und das ja nicht zum ersten Mal, aber da von meinen anderen Attacken nie etwas öffentlich bekannt geworden war, verfolgten sie mich nicht.
In beiden involvierten Behörden arbeitet man jetzt intensiv und unter raffinierten Fragestellungen an allen Fällen weiter, an denen ich leitend oder mitarbeitend beteiligt war, und man verspricht sich hiervon eines Tages die endgültige und schlüssige Aufklärung der Verbrechen und den zukünftigen Ausschluss solcher Ungerechtigkeiten, wie sie mir widerfahren sind.
Du wirst dich jetzt fragen, warum ich dir das berichte bzw. was das mit dir zu tun hat, und ich antworte dir: bis jetzt noch nichts, aber wir wollen nichts überstürzen. Bei mir ist es so: gegen Mitternacht bemerke ich im Gesicht ein eigenartiges Zucken, ein Jucken und Kribbeln um die Mundwinkel, damit beginnt es, dann folgt eine Wulstbildung meiner Kopfhaut und eine scharfkrallige Umbildung meiner Hand- und Fußnägel, das Ganze ist begleitet von einer verzehrenden inneren Aufregung und einem Pulsieren des gesamten Körpers, bis mich meine Sinne und mein Erinnerungsvermögen verlassen. Ich bin nicht mehr ich selbst und kann nur noch warten was geschieht, auf mein Handeln habe ich nämlich keinen Einfluss mehr. Nicht immer stellt sich ein Erfolg ein, ich glaube sogar, meistens nicht. Wie deprimierend so ein unbefriedigter Jagdtrieb für unsereinen ist, davon machst du dir keine Vorstellung. Wenn ich meine normale Gestalt wiederhabe, bin ich voller Hass auf meine Umgebung, weil ich es kaum noch ertragen kann, dass es Leute wie dich gibt, die einfach so dahinleben, und solche wie mich, die vom Schicksal derart ungerecht behandelt werden, und du wirst verstehen, dass ich das nicht hinnehmen kann.
Nimm das aber nicht persönlich, ich will nur ganz ehrlich zu dir sein. Du musst jetzt auch nicht etwa denken, dass mir das täglich passiert, nein, es kommt völlig sporadisch über mich, im Durch-schnitt vielleicht ein- bis zweimal im Jahr, ich kann es nicht genauer sagen. Ich vermute auch, dass es zweimal in derselben Woche passieren kann und ich dann ein Jahr lang Ruhe habe. Übrigens sind meine Briefe dieser Art inzwischen technisch noch an-spruchsvoller geworden, sie haben nicht nur eine exakt einstellbare Haltbarkeit, sondern sind auch weder fotografier- noch kopierfähig, das nur zu deiner Information, ich bin ganz offen zu dir. Und ich weiß natürlich auch, was du so viele Jahre erfolgreich vertuschen konntest, das verdient meine Hochachtung, ich hätte das nicht besser machen können. Aber es kommt doch alles irgendwann ans Licht, zwar nicht bei jedem, da muss man eben auf der Hut sein, man muss Quellmaterial vernichten und Auswege selbst aus den vertracktesten Situationen finden, und da hapert es bei dir, das ist einige deiner wenigen Schwachstellen. Du bist jetzt der einzige Eingeweihte, und du wirst ahnen, dass das eine Sonderstellung ist. Wer in Schwierigkeiten steckt, braucht andere, die sich ebenfalls in Schwierigkeiten befinden. Zusammen ist man stärker, und besonders wir Schwierigen müssen zusammenar-beiten, das halte ich für eine unverzichtbare Form der Solidarität.
Du tilgst allein schon durch deine Mitwisserschaft meine bisher letzte große Sünde, einen vierfachen Mord. Übrigens: nicht nurmeine, sondern auch deine DNA befindet sich seit einiger Zeit an allen Asservaten der letzten Fälle, und da meine Spuren inzwischen automatisch gelöscht werden, müssen wir nur noch den Träger deiner DNA finden, nämlich dich. Ein Wink von mir würde genügen, und du wirst der lange Gesuchte und blitzschnell Gefundene sein, und man wird sich bei deiner Festnahme nicht zimperlich verhalten, das wirst du mir glauben, aber es gibt ja immer auch eine andere Möglichkeit, wie du sicher weißt.
Es wäre tragisch für mich, auch dich zu verlieren, aber ich kann und will dich nicht überfordern, und das Maß, das du tragen kannst, ist randvoll. Ich denke, wir sollten nicht länger warten…
So etwa schloss mein letzter Brief, der eben in die Post ging, und er enthielt meinen ganzen Bericht bis hierher. Ich bin natürlich gespannt, was sich daraus entwickelt, in wenigen Tagen wird ganz sicher etwas geschehen. Ich will auch ganz offen zugeben, dass ich neben meiner Sicherheit auch die Gefahr meiner Entdeckung liebe und suche, es ist auch ein Spiel. Ich bin einer von den vielen Menschen, die ihre Krankheit annehmen und mit ihr leben, und Nebenwirkungen bzw. Kollateralschäden kann man nie ausschließen.
Ich muss neuerdings fast täglich meine feuchtkalte Haut ertragen, die wegen ihres oft unangenehmen Geruchs mir selbst peinlich ist, dauernd habe ich den Drang, duschen und mich umziehen zu müssen. Ich muss außerdem aufpassen, dass mein zunehmender Hang zum Alkohol mir keinen Strich durch die Rechnung macht, ich darf nicht krank werden und ggf. unter Narkose Dinge erzählen, die mir schaden könnten, und ich muss damit leben, von Zeit zu Zeit dieses nächtliche Doppelleben zu führen. Ich darf aus diesen Gründen prinzipiell nur alleine schlafen und keine persönlichen Kontakte aufbauen oder zulassen. Ich werde meinen ganzen Scharfsinn darauf verwenden, keine Spuren zu hinterlassen, und ich muss regelmäßig meine Last abwerfen, das ist notwendig für meine geistige Gesundheit und mir ja schon öfter gelungen.
Ich will auch weiterhin ein geachteter und allseits beliebter Mann in leitender Stellung bleiben und eines Tages vielleicht Polizeipräsident werden. Das Leben hält so viel für jeden von uns bereit. Ich…

2013

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