Ein Mann in leitender Stellung

Bild von W.Haller
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In den letzten Jahren hatte ich genug Probleme, und seit einigen Wochen sollten sie nun wirklich der Vergangenheit angehören. Aber so einfach ist es offensichtlich nicht, ich schlafe schlecht und träume wirre und grauenhafte Sachen, von denen morgens jedoch nur ein ungutes Gefühl übrig bleibt, die Ahnung, nein, die Gewissheit von schrecklichen Verstrickungen, aus denen es kein Entrinnen geben kann. Das hatte ich zwar nicht zum ersten Mal, aber so schlimm wie heute war es noch nie. Außerdem hatte ich während der Albträume meine Lippen wieder derartig malträtiert, dass mein Mund rundherum einen rostroten und teilweise bereits schwarzen Blutrand hatte und das Kopfkissen und die Bettdecke aussahen wie nach einem Mord. Dieses Wort kommt relativ leicht über meine blutigen Lippen, denn es prägt seit 17 Jahren mein Berufsleben, ich habe einen im Wortsinn blutigen Beruf, denn ich bin Leiter der hiesigen Mordkommission Aber ich will ehrlich sein, ich bin es erst seit etwa drei Wochen, genauer seit drei Wochen wieder. Was mich aber heute besonders verstörte, war das erstmalige Verschwinden meines Handys, von dem ich mich nie trenne und das ich hüte wie meinen Augapfel, denn ich organisiere mich über dieses Wunderding praktisch komplett und halte mit ihm den Kontakt zur Außenwelt. Es war einfach weg, immer wieder durchsuchte ich dieselben Stellen, obwohl das bei meiner Akribie ganz sinnlos ist, ich baute das Bett auseinander, schüttelte Decken aus, untersuchte die Bettwäsche und durchwühlte meine Sachen, aber es war und blieb verschwunden. Das war unheimlich, unglaublich, ich zweifelte an meinem Verstand, das konnte ich ja niemandem erzählen.
Als ich im Präsidium ankam, war dort der Teufel los, alles wuselte durcheinander, der Generalstaatsanwalt war da, ein ganz schlechtes Zeichen, das sich bereits in den nächsten Minuten bewahrheiten sollte: 1. Mein offizieller Anschiss wegen Nichterreich-barkeit, 2.„ Lage“, 3. Zusammenstellung einer SOKO inklusive ver-schiedener Suchtrupps, 4. Schlachtplan, 5. Vergatterung. Offenbar war ich der Einzige, der von den schrecklichen Ereignissen der letzten Nacht nichts wusste, von einem grauenhaften Massenmord, und dazu noch in meiner unmittelbaren Nähe, ein paar Schritte von dem Haus entfernt, in dem ich, von einer etwa dreijährigen Unterbrechung abgesehen, wohne. Über die Straße weg sind es in den Klosterbergegarten vielleicht hundertzwanzig Meter, wo von einer frühen Joggerin an einer Böschung zwischen Ginsterbüschen mehrere Leichen bzw. Leichenteile entdeckt worden waren. Bereits seit den Morgenstunden war hier alles abgeriegelt, und der Tat- bzw. Fundort durch Zelte vor dem Nieselregen geschützt. Warum habe ich davon eigentlich beim Abfahren nichts bemerkt? Ich bin nämlich sonst sehr aufmerksam für meine Umgebung, das gebietet mir schon allein mein Beruf. Noch kryptischer war die Tatsache, dass ausgerechnet mein vermisstes Handy als einziges Indiz am Tatort gefunden wurde, aber inzwischen habe ich es wieder, und ich fühle mich jetzt besser. Normalerweise hätte ich es nicht so schnell zurückbekommen, aber mein Fall hat eine besondere Vorgeschichte, und die musst du natürlich kennen, weil sie im Zusammenhang mit den Ereignissen eine wichtigen Rolle spielt.
Ich muss damit beginnen, dass so etwas an diesem Ort nicht zum ersten Mal passiert ist, genau genommen hätte ich sagen müssen: wieder wurden Leichen und Leichenteile gefunden, und zwar wieder nicht vollständig, aber irgendwo würden sich vermutlich auch dieses Mal die restlichen Teile finden. Nach den bisherigen Erkenntnissen handelt es sich bei dem aktuellen Fall um vier Opfer, schrecklich.
Für mich selbst ist der Anblick eines solchen Ortes auch nicht einfach zu verkraften, aber irgendwie kam mir bei beiden Fällen alles bekannt vor, vermutlich deshalb, weil ich ja schon oft mit derartigen Ermittlungen zu tun hatte. Du weißt bereits, dass ich schon einmal Leiter dieser Mordkommission war, und dass das etwa drei Jahre her ist. Was damals geschah, hat sich im Prinzip heute nur wiederholt, allerdings mit mehr Opfern. Damals waren es zwei, übrigens immer Frauen, und es waren nachweislich weder damals noch heute Sexualmorde, jedenfalls wurde keine der Frauen vergewaltigt, diese Feststellung ist mir sehr wichtig. Damals wurde an allen Leichenteilen die gleiche Fremd-DNA gefunden, und bereits 36 Stunden nach Beginn der Ermittlungen hatte die KTU den einzig möglichen Täter durch Abgleich aus der DNA-Datei her-ausgefiltert, und das war ich. Unfassbar!
Nicht nur die Mordkommission, sondern alle Beteiligten bis hin zum Polizeipräsidenten und Generalstaatsanwalt standen Kopf, über uns allen lag eine schwer beschreibbare Gewitterstimmung, was wurde hier eigentlich gespielt, und von wem?
Nichts durfte nach außen dringen, wir wurden gemeinsam und einzeln bei Androhung des Pensionsverlustes zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Der Druck von außen, vor allem durch Medien und Politik, wuchs ins Unerträgliche. Ich wurde mehrmals stundenlang in Kreuzverhören befragt, aber es ergaben sich keine Anhaltspunkte gegen mich, und ich hatte während der Ermittlungen nachweislich keinen Kontakt zu den Körperteilen der Unglücklichen.
Da damals keine Aufklärung erfolgte und es außer mir keine weiteren Verdächtigen gab, schob die Staatsanwaltschaft die totale Erfolglosigkeit der Ermittlungsarbeit in erster Linie auf mein persönliches Versagen bzw. meine Inkompetenz, was logischerweise nicht gerade förderlich für meine weitere Laufbahn war. Es folgten kurz nacheinander zwei Versetzungen in andere Ressorts und schließlich die Zuweisung in den Innendienst des Raubdezernates, und das natürlich mehr als dreihundert Kilometer entfernt von meinem hiesigen Lebensmittelpunkt.
Ich habe mir in meinem neuen Job weder die Erniedrigung anmerken noch etwas zuschulden kommen lassen, im Gegenteil, ich habe mich schnell in die neue Materie eingearbeitet, war gewissenhaft, kreativ, fleißig, kooperativ und sehr erfolgreich. Nach fast drei Jahren hat man in den oberen Etagen beider Häuser, ich meine die Generalstaatsanwaltschaft und das Polizeipräsidium, endlich begriffen, was man an mir hat, und dass der damalige Fauxpas nicht durch mich verursacht wurde, sondern durch den bisher immer noch nicht gefassten Täter, der meine DNA an die Opfer gebracht hat, um die Spuren auf mich zu lenken und mich als exzellenten Ermittler zu vernichten, eine glaubwürdigere Anerkennung eines Polizisten kann man sich wohl kaum vorstellen. Diese neue Sichtweise griff um sich und hat mich dann wieder zu dem gemacht, was ich war und nun wieder bin, ganz abgesehen von offiziellen Entschuldigungen, freundschaftlichen Gesten meiner Chefs, finanziellen Entschädigungen und einer festlichen und wirklich berührenden Reinauguration, wenn ich mich mal

2013

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