Das andere Ich

Bild von Lydia Kraft
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Es war November. Das Grau des Himmels ließ den Hades erahnen, dem sich die Menschen der Antike in dieser Jahreszeit zuwandten. Zeit, Rückschau zu halten. Leider ließen mir meine Lebensumstände keine Zeit für solcherlei egozentrischen Herbstallüren.
Ich hatte meinen Chef nach treuen Diensten um eine Gehaltserhöhung gebeten. Obwohl die Konjunktur sich belebte, meinte mein Chef, es bestehe keine Chance, dem Himmelreich ein Stück näher zu gelangen. Statt eines Gehaltsschecks händigte er mir die Kündigung aus. So stand ich also vor der Pforte des modernen Hades. Ich musste zum Arbeitsamt, mich als arbeitssuchend registrieren lassen.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich die Seelsorge anrufen sollte, da meine neuen Aussichten mich in ein pekuinäres Loch fallen ließen. Dann entschied ich aber, mir lieber ein zweites Ich, eine andere Natur, überhaupt ein neues Leben zuzulegen. Ich konnte dabei dem Himmelreich nur näher kommen und wagte den Schritt zum Neuanfang.
Alles war ganz einfach. Als Erstes legte ich mir eine neue Identität zu. Ein neues Outfit, einen anderen Namen, und meine biografischen Daten waren vollkommen unverfänglich. Mein zweites Ich wurde von einer Leichtigkeit getragen, dass ich hätte neidisch werden können.
Sofort begab ich mich auf Wohnungssuche. Ich musste auch nicht lange suchen, denn mein Konto war gut gefüllt. Keine Ahnung, wo die Kohle herkam, vom Amt sicher nicht. Mein Kontostand wäre dann nicht mit so vielen Nullen versehen gewesen. Einem geschenkten Gaul schaut man aber nicht ins Maul, und so war ich bald Eigentümerin einer kleinen, aber gemütlichen Wohnung.
Die Räume waren noch leer, und ich war gerade dabei, die Energien meines neuen Heims auf mich wirken zu lassen, da klingelte es an der Haustür. Wilfried, der eben mal hallo sagen und sich vorstellen wollte, da er ein Nachbar war. Eigentlich stand das nächste Haus zwei Straßen weiter. Ich wollte nicht unhöflich erscheinen und fragte nicht, woher er denn wusste, dass hier jemand einziehen würde. Es war noch nicht einmal ein Möbelwagen vorgefahren. Ich ließ mich auf einen Smalltalk ein, der dann kein Ende nehmen wollte, bis ich ihn bat zu gehen. Das tat Wilfried mit der Bemerkung, ich solle keine Scheu haben, ihn anzurufen, wenn ich Hilfe bräuchte.
Endlich konnte ich mich wieder meiner Wohnung widmen. Während ich abermals versuchte, die Schwingungen meiner neuen Behausung auf mich wirken zu lassen, bemerkte ich, dass ich nicht mehr alleine war. Es schien, als begänne mein neues Ich, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
Dieses zweite Ich suggerierte mir, dass es dringend Komfort, Spaß und Luxus in seiner neuen Hütte bräuchte. Das waren gleich drei Dinge auf einmal. Ich befürchtete, dass mein anderes Ich da etwas zu extravagant war. Aber es ging wirklich. Ein Blick auf den Kontostand garantierte, dass ich die Wohnung komplett neu einrichten konnte. Geiles Leben, dachte ich und begab mich auf die Shopping-Meile am Rande der Stadt. Hier blieb die Zeit für mich stehen, oder vielmehr: für mein zweites Ich. Es machte wirklich Spaß, mit ihm das Inventar für unser zukünftiges Heim auszusuchen, ohne dabei auf jeden Cent achten zu müssen.
Eine nettes Sofa und einen eleganten Esstisch, der sich auch vor dem Sofa gut machte und der so groß war, dass der neue Computer darauf nicht weiter auffiel. Dann leistete ich mir eine Spülmaschine. Ein weiteres Indiz dafür, dass ich dem Himmelreich ein Stück näher gekommen sein musste. Des Weiteren einen Essstuhl und einen Stuhl mit einem Schachtisch. Eigentlich wollte ich mir noch eine High-End-Stereoanlage in die Wohnung stellen. Aber im Wohnzimmer war kein Platz mehr, und für das Schlafzimmer wählte ich lieber ein Bücherregal und eine E-Gitarre mit Verstärker. Letzteres musste einfach sein, war ich mir doch sicher, garantiert keine Nachbarn zu nerven. Was für ein Glück! Ein Saxophon wäre zwar noch besser gewesen, das gab es im Musikgeschäft aber nicht, und ich wollte nicht kleinlich sein. Ich war vollauf zufrieden mit meinem neuen Leben.
Mein zweites Ich sah das genauso, denn es gab mir zu verstehen, dass ich alle Kriterien und Normen erfüllt hatte, um es bei bester Laune zu halten.
Und es kam noch besser. Ich brauchte mich nicht um den Einkauf zu kümmern; der Kühlschrank war einfach immer voll, und ich musste auch keine Klamotten waschen. Mir wollte das etwas zu romantisch erscheinen. Aber mein zweites Ich sagte, das wäre schon in Ordnung, und ich könnte ja das Klo putzen, wenn mich mein Ordnungsbewusstsein nicht zur Ruhe kommen ließe.
So war ich dann eigentlich nur mit Essen, Pinkeln gehen und den netten Vergnügungen beschäftigt, die mir der Einkauf ermöglicht hatte: Schach, Lesen, Gitarre spielen oder auch mal gar nichts tun.
Es ließen sich auch immer mehr Nachbarn blicken, die jederzeit für einen kleinen Plausch zu gewinnen waren. Bei dieser regen Nachbarschaft, dachte ich, konnte es nicht lange dauern, bis sich auch ein geeigneter Lover finden würde. So war ich voller Hoffnung und Dankbarkeit für dieses neue Leben, und alles war gut. Bis mir eines Tages ein Nachbar erzählte − ich glaube, es war Willi −, dass man mit dem Computer auch prima Jobs finden könne.
Auch gut, dachte ich. Wenn das Privatleben so gut anlief, vielleicht offenbarte mir auch die Arbeitswelt paradiesische Zustände. Ein Job, der mir Spaß machte, und eine angemessene Bezahlung − mehr hätte ich für den Anfang nicht erwartet.
Vielleicht hätte mich jetzt der Liebhaber retten können, auf den ich so nebenbei wartete. Aber es klingelte nicht, und schon der Versuch, die Pforten meines privaten Himmelreiches zu öffnen, um mich in die weltlichen Gefilde der Arbeitswelt hinabzubegeben, ließ mich kläglich scheitern.
Den Computer konnte ich vom Sofa aus bedienen. Der Tisch war so im Raum platziert, dass das Sofa noch einen freien Platz zum Ausruhen und Beine ausstrecken hatte. Am anderen Ende des Tisches stand der Essstuhl. Für jede Gelegenheit die passende Sitzmöglichkeit, dachte ich.
Als ich dann den Computer benutzen wollte, musste ich jedoch feststellen, dass ich auf dem Sofa nur sitzen oder ein Nickerchen machen konnte. Fand ich völlig unpraktisch und wollte mit meinem neuen Ich diskutieren, dass die Komfortbeschränkung des Sofas in Anbetracht der räumlichen Enge etwas pingelig sei. Mein zweites Ich ließ aber nicht mit sich reden. Es regte sich über den Fehlkauf des Computers auf und war sauer, dass es kein Nickerchen auf dem Sofa machen konnte. Ich fand das jetzt alles etwas übertrieben und meinte, es könne sich ja auch wieder ins Schlafzimmer zurückziehen, wo wesentlich unterhaltsamere Dinge als ein Sofa warten würden. Aber mein zweites Ich blieb beharrlich und bestand darauf, dass etwas unternommen werden müsste, damit das Wohnzimmer seinem Namen gerecht werde.
Ich dachte, man soll seine bessere Hälfte nicht erzürnen. Als so etwas hatte ich mein zweites Ich mittlerweile identifiziert, denn es hatte in unserer Beziehung auf jeden Fall das Sagen. So begab ich mich also bereitwillig in die Hallen des Einkaufstempels und versuchte, den Computer wieder loszuwerden.
Ging auch ganz einfach. Leider gab es dennoch keinen häuslichen Frieden. Einem Nickerchen stand jetzt noch immer der Tisch im Wege. Ich musste mich wieder auf die Socken machen, um die Couch und den Tisch loszuwerden. Bei der Couch ließen sie auch mit sich reden. Beim Tisch gab es aber kein Verständnis, den nahm niemand mehr ab, obwohl er noch wie neu aussah.
„Es geht nicht darum, wie gut der Gegenstand erhalten ist. Es hängt davon ab, wie oft Sie daran gesessen haben“, erklärte mir ein Verkäufer hinter vorgehaltener Hand. Woher wussten die, wie oft ich an dem Tisch gesessen hatte? Waren das die ersten Anzeichen der gläsernen Kundschaft, von der jeder Großkonzern träumte? Ich merkte, dass mir das mittelschwer egal war. Mein revolutionäres Potenzial hatte ich wohl in meinem alten Leben zurückgelassen. Lieber wollte ich mal wieder ein bisschen Schach oder Gitarre spielen. Erst musste aber das Wohnzimmer neu eingerichtet werden.
Seit dem Stress mit dem Esstisch hatte mein zweites Ich immer öfter am Kühlschrank gestanden. Eindeutiges Frustfressen, dachte ich und hoffte, dass seine Übellaunigkeit nicht ernsthaftere neurotische Züge annehmen würde. Wortkarg, wie es geworden war, erklärte es mir mit gereiztem Unterton, dass es keine Kochgelegenheit gebe (nicht mal eine Mikrowelle), und fragte, ob ich nicht wenigstens ab und zu lieber eine warme Mahlzeit hätte. Immerhin wäre es November.
Bei seinen Ansprüchen hätte ich meiner zweiten Hälfte durchaus ein makrobiotisches Ernährungsbewusstsein zugetraut, war aber froh, dass ich mich nicht an einen Junk-Food-Esser gewöhnen musste. Ich wollte sie und mich nicht weiter reizen und zog wieder zum Einkaufen los. Wieder einmal konnte ich zufrieden sein. In einem Laden für Küchenmöbel fand ich zum Superschnäppchenpreis eine hypermoderne Kühl- und Kochkombination. Es musste niemand mehr kochen, und trotzdem wurden alle in kürzester Zeit und ernährungswissenschaftlich wertvoll satt.
Ich kannte mein zweites Ich ziemlich gut. Die Freude war groß. Sie währte nur nicht lange, denn um an die kühlende Kochgelegenheit zu gelangen, musste der Esstisch so verrückt werden, dass niemand mehr pinkeln gehen konnte. Anders herum war es genauso dumm, und auch der Sessel, den ich anstelle des Sofas mitgenommen hatte, musste jedes Mal zurechtgerückt werden, wenn ihn jemand benutzen wollte.
Mein zweites Ich begann, an einer nervlichen Überbelastung zu leiden. Ich konnte es wohl nachvollziehen, war selbst völlig genervt von der ständigen Möbelrückerei. Aber ich bemühte mich wenigstens, Ruhe zu bewahren.
Ich besann mich auf die Nachbarschaft, die sich bisher so eifrig um uns gekümmert hatte. Jedoch nicht einmal Willi hatte Zeit oder ein offenes Ohr, dass ich ihm meine missliche Lage hätte erklären können.
Dann muss ich zur Selbsthilfe greifen, dachte ich und wollte den Esstisch als Sperrmüll auf die Straße stellen. Allerdings wurde mein zweites Ich immer spießiger und erklärte mir, dass man so etwas nicht machen dürfe. Das störe die öffentliche Ordnung, und wenn uns jemand auf frischer Tat ertappe, hätten wir mit einem saftigen Bußgeld zu rechnen. „Das wäre wohl nicht die erste Rechnung, die ich begleichen müsste“, wollte ich einwerfen, erinnerte mich dann aber, dass das Szenen aus meinem alten Leben waren. Ich konnte nicht mehr mit Klarheit sagen, welches Leben das bessere war.
Zumindest gab es früher kein Ego, das einen Nervenzusammenbruch bekam, weil es auf dem Sofa kein Nickerchen machen konnte. Und jetzt, da ich mit dem Tischerücken nicht mehr hinterherkam, entzweiten wir, ich und mein zweites Ich, uns immer mehr. Dieses andere Ego schwankte zwischen Wutausbrüchen und Ohnmachtsanfällen. Ich dachte jetzt immer öfter darüber nach, wie ich es loswerden konnte.
Nach einigen Überlegungen wurde mir klar, dass ich die Wahl hatte, es zu verlassen oder ihm das Leben zu nehmen. Ich entschied mich für Letzteres. Mal ehrlich; ich glaube, dieses andere Ich hätte sich nicht mehr erholt, und bei jedem weiteren Besuch einen neuen Anfall zu erleben, das kann es ja dann auch nicht sein. Auch wenn eine leise pazifistische Stimme in mir mahnte, dass das jetzt nicht zur Regel werden sollte im Umgang mit Leuten, die mir nicht so liegen. Ich schritt zur Tat.
Zum Glück kam dann Harald, ein guter Freund, vorbei, und mir wurde klar, dass ich noch ein Leben hatte. Mein eigenes. Glück gehabt, hat wohl jemand abgespeichert. Ich bekam wieder ein Bewusstsein dafür, dass ich die ganze Zeit nur gespielt hatte. Die Sims, ein Computerspiel, das sie schwer erziehbaren Jugendlichen als Strafe aufbrummen sollten. Ich als integere Person werde mir solch eine zweite Persönlichkeit jedenfalls nicht noch einmal zulegen denn so eine Vereinnahmung meiner Persönlichkeit bekommt mir schon im realen Leben nicht.
Harald redete beruhigend auf mich ein, und ich stellte mit Erleichterung fest, dass der Wahnsinn nur von diesem anderen Ich Besitz ergriffen hatte. Bei mir schien so weit alles wie immer zu sein, auch wenn ich immer noch oft darüber nachdachte, wie ich diesen Tisch losbekommen könnte. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass der im Weg war. Er hatte sich wirklich gut in dem Zimmer gemacht, und ich fragte Harald, ob er den Tisch nicht nehmen könne. Er sah mich merkwürdig unwissend an und ließ sich erklären, welchen Tisch ich meinte.
Erst sagte er eine Weile lang nichts. Dann entschied er, dass ich heute Abend lieber nicht allein bleiben sollte, und nahm mich mit in sein Stammlokal. Dort stellte er mich Peter vor, und dieser versöhnte mich dann wieder mit meinem realen Leben. Wir sehen uns jetzt öfter und haben auch ohne Kaufmodus, aber bei einem Bier festgestellt, dass es sich im Hades der Moderne, ganz gut leben lässt.

Veröffentlicht / Quelle: 
So kann's gehen Teil2 ebook

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