Die zehnte Muse

Bild von Magnus Gosdek
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Von ihrem Fensterplatz aus konnte Thalia die Passanten auf der 42. Straße wunderbar beobachten. Ein endloser Strom Männer und Frauen der unterschiedlichsten Hautfarbe und Generationen zog an dem Café vorbei. Es schien, als hätten sich sämtliche Kulturen der Erde hier in Manhattan vermischt und trotzdem sahen sie für Thalia letztendlich doch alle gleich aus.
Sie war in bedrückter Stimmung und in Gedanken schimpfte Thalia Apollon, der sich, seiner Art entsprechend, wieder einmal schrecklich ungenau ausgedrückt hatte. Immerhin wusste sie, dass es sich bei ihrem neuen Auftrag um einen Mann mit Namen Josip Wellcomb handelte. Die Wohnadresse jenes Wellcomb kannte Apollon nicht. Mit solchen Nebensächlichkeiten hatte er sich noch nie beschäftigt. Der Name allein war nicht viel, aber immerhin genug, um, so wie sie meinte, in New York einen Bühnenautor ausfindig machen zu können.
Doch nun weilte sie schon seit drei Tagen in der Stadt und diese Zeit hatte genügt, ihren Optimismus zu dämpfen. Thalias Suche im Telefonbuch blieb erfolglos und ebenso wenig kannten die üblichen Theateragenturen einen Josip Wellcomb. Dieser Mann schien nicht zu existieren, und fast zweifelte Thalia daran, ob sie sich wirklich im richtigen Jahrhundert befand.
Apollon wurde langsam alt und sein Gedächtnis ließ nach. Ein Irrtum dieser Art war durchaus vorstellbar. Kürzlich hatte er Kalisto auf einen Mann namens da Vinci angesetzt, und erst als diese ihm eindringlich versicherte, dass sie diesen Job bereits vor 500 Jahren erledigt hatte, räumte Apollon – wenn auch widerwillig – ein, dass er möglicherweise etwas durcheinandergebracht hatte.
Und nun saß Thalia hier und war auf der Suche nach einem mittelmäßigen Komödienschreiber, den die Götter dazu ausersehen hatten, von der Muse geküsst zu werden.
Sie musste sich darüber im Klaren werden, wie es weitergehen sollte.
Jedenfalls benötigte sie erst einmal eine Unterkunft. Wenn sie auch während eines Auftrages nicht schlief, so hätte es auf die Menschen doch sehr befremdlich gewirkt, die Nacht über durch die Straßen der Stadt zu laufen.
Außerdem musste sie sich nach einem Job, wie es heutzutage wohl genannt wurde, umsehen. Kalisto, die Schatzmeisterin der neun Musen, hätte eine große Karriere als Buchhalterin anstreben können, und hatte ihr als Reisespesen nur ein paar Dollar überlassen, die sie bereits fast vollständig für Essen und Trinken ausgegeben hatte.
Immerhin benötigte sie keine neue Kleidung. Apollon hatte ihr eine blaue, dickwollene Hose, die er Jeans nannte, und eine Bluse geschenkt. Thalia musste zugeben, dass sie damit in der Stadt nicht auffiel.
Nachdem sie ihren Kaffee gezahlt hatte, trat sie auf die Straße hinaus. Eine Weile sah sie sich unschlüssig um. Im Grunde war es egal, in welche Richtung sie sich wandte. Dort links die Straße hinunter aber glaubte sie, das Schild eines billigen Hotels gesehen zu haben, und so lief sie im Abendschatten die 42. Straße entlang in Richtung des Hudson Rivers.
Das billige Hotel war in Wirklichkeit eine Absteige, die ihre Zimmer auch gern stundenweise vermietete. Die Räume waren neben einem Bett fast nur mit schmutzigen Wänden ausgestattet, aber es genügte Thalia vollständig. Sie hatte das Zimmer für eine Woche im Voraus bezahlt und war nun völlig pleite.
Dieser Zustand bereitete ihr jedoch keine Sorgen. Wenn es nach ihr ging, würde sie nicht lange in diesem Moloch bleiben, der sich so vollständig von ihrem Zuhause unterschied. Doch wer konnte das schon sagen? Es war besser, sich an die Gepflogenheiten der Einwohner dieser Stadt anzupassen und dazu benötigte Thalia Arbeit.
Einen Tag lang lief sie durch die Straßen und betrat jeden Laden, der sie aus irgendeinem Grunde an einen Imbiss oder eine Bar erinnerte.
Schließlich hatte sie eine Anstellung als Bedienung in einem Schnellrestaurant gefunden. Der Chef, ein hektischer, schmerbäuchiger Mittvierziger, hatte nur einen kurzen Blick auf sie geworfen und keine Fragen gestellt. Es war Thalia lieb, als Geschichtenerzählerin war sie noch nie gut gewesen.
Das Restaurant lag ein wenig abseits, aber immer noch im Einzugsgebiet der Theater, was Thalia die Möglichkeit eröffnete, nach Beendigung ihrer Schicht ihre Nachforschungen weiter anstellen zu können.
Wenn, so überlegte sie, dieser Josip Wellcomb wirklich Bühnenkomödien schrieb, so suchte er auch den Kontakt zu Theaterleuten. Irgendjemand musste ihn einfach kennen und mit ein wenig Glück würde sie ihn sogar treffen.
So arbeitete sie eine Woche in dem Restaurant, bediente neun Stunden am Tag Männer in Arbeitsoveralls und Verkäuferinnen aus umliegenden Geschäften. Manchmal kamen Leute vom Theater, aber niemand von ihnen erinnerte Thalia an Stückeschreiber. In ihrem Leben hatte sie einige von ihnen kennen gelernt, und so wusste sie auch, dass es keine sicheren Merkmale gab. Eine Muse aber erkannte ihr Klientel, das gehörte nun einmal zu ihrem Beruf.
Zur Mittagszeit war das Restaurant überfüllt und Thalia schleppte vier Teller gleichzeitig. Das Essen war einfach, roch aber gut, und auch wenn Thalia das Gefühl des Hungers nicht wirklich kannte – meist aß sie einfach aus Gewohnheit – so verspürte sie gelegentlich doch den Drang, eines der Gerichte in sich hineinzuschaufeln.
Nach ihrer Schicht klapperte sie die Stadt nach Josip Wellcomb ab. Sie fragte in jedem Theater, bei den freischaffenden Agenturen und sämtlichen Verlagen nach. Selbst die Zeitungsredakteure konnten ihr nicht weiterhelfen. Langsam kam Thalia zur Überzeugung, dass für Josip Wellcomb Manhattan genauso weit entfernt lag, wie der Mond.
Während dieser Zeit versuchte Thalia ständig, Apollon zu erreichen. Ganz sicher hatte er sich vertan und es machte einfach keinen Sinn mehr, New York nach einem Phantom zu durchforschen.
Doch Thalia hatte kein Glück. Nach 270 Jahre Arbeit ohne Pause sah Apollon die Zeit gekommen, Urlaub einzureichen und die ihm zustehende Entspannung zu suchen. Thalia wusste aus Erfahrung, dass diese Zeitspanne sich sehr lange hinziehen konnte und außer Apollon war niemand in der Götterwelt in der Lage, ihr Genaueres über ihren Auftrag zu berichten. Sie musste ausharren und weiter ihr Glück versuchen.
So begann Thalia an jedem Morgen die Tische des Schnellrestaurants abzuwischen und sich auf den nächsten Ansturm vorzubereiten.
Josip Wellcomb ließ auf sich warten. Nicht, dass dieses Wort in der Welt einer Muse Bedeutung gehabt hätte. Immerhin war Zeit ein Begriff, der zur Geographie der Geschichte gehörte und lediglich zur Orientierung diente. Dieses Mal jedoch wurde Thalia ärgerlich.
Sie hatte keine Vorstellung, wo sich dieser unbekannte Künstler aufhalten konnte, und niemand in dieser großen Stadt schien ihn zu kennen. Die Chancen

Musen und Götter
Die neun Musen
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Euterpe Flötenspiel, Gesang
Kalliope Epische Dichtung
Klio Geschichtsschreibung
Melpomene Tragödie
Polyhymnia hymnische Dichtung
Terpsichore Tanz
Thalia Komödie
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Götter:
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Tyche Göttin des Zufalls
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Hippokrene Quelle der Musen am Helikon, geschaffen aus einem
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Kommentare

16. Nov 2016

Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...

LG Axel

15. Mär 2017

Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus

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