Die zehnte Muse - Page 9

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sie bemerkte – schlüpfte sie in Eratos Zimmer.
Ihre Kollegin war überrascht, hörte ihr jedoch aufmerksam zu. Als Thalia geendet hatte, sagte sie:
„Das ist eine verzwickte Angelegenheit. Ich bin zwar die Muse der Liebeslyrik, aber ich verfüge über keine praktischen Erfahrungen. Meine Kundschaft schreibt nur darüber.“
Das sah Thalia natürlich ein.
„Was ist, wenn ich meinen Auftrag einfach ausführe?“ fragte sie deshalb.
„Das wird nicht gelingen. Zwei Zauber wirken nicht, wenn einer so übermächtig ist.“
„Warum ist meine musische Kraft nicht genauso stark?“
„Musen können allein vorhandenes Talent stärken. Die Kraft, die in dir wirkt, kann jedoch bei jedem Menschen entfacht werden. Sie ist viel stärker. Vielleicht sollte ich ihn einmal küssen, dass seine Kraft sich auf das Beschreiben reduziert.“
In diesem Augenblick war Thalia überrascht, eine neue Gefühlsregung kennen zu lernen, und für einige Sekunden kämpfte sie mit sich, sie in den Griff zu bekommen.
„Danke für dein Angebot, Erato. Aber ich glaube, ich schaffe das schon.“
„Wie du meinst. Jedenfalls musst du zunächst seinen Zauber brechen, bevor du deinen Auftrag ausführen kannst.“
Thalia hatte es bereits befürchtet, und ihre Laune sank auf das tiefste Maß, wessen eine Komödiantin zu erreichen im Stande war. So reiste sie nach New York zurück.
*
Jo hatte Thalia seine Telefonnummer gegeben, und am Nachmittag rief sie ihn an. Er freute sich darüber.
„Ich muss dich unbedingt sehen,“ sagte sie.
„Geht mir genauso,“ antwortete er.
Sie wusste, dass er nicht ihre Gründe meinen konnte, sagte aber nichts.
„Treffen wir uns zum Dinner?“ fragte Jo.
„Ja,“ sagte sie, obwohl sie nein meinte.
Sie verabredeten sich um sieben in Ho's Sushi Haus. Thalia hatte sich noch nie etwas aus rohem Fisch gemacht, dafür mochte sie auch keinen kalten Reis.
Immerhin war der Sake warm genug, dass sie das Essen gut verkraftete. Aus irgendeiner weisen Voraussicht hatte Jo bereits Tee bestellt und spielte mit seinen Borax-Tabletten vor ihrer Nase herum.
Thalia war entschlossen, heute, unbedingt heute die Sache zu klären.
„Jetzt kennen wir uns schon drei Tage und ich weiß noch immer nichts über dich,“ sagte Jo und sah sie über den Tisch hinweg auffordernd an.
„Über mich gibt es nichts zu wissen,“ entgegnete Thalia.
„Oh doch, da bin ich ganz sicher. Also, ich sage jetzt nichts mehr und höre dir nur zu.“
Er stützte den Kopf in die Hände und blickte Thalia in die Augen.
Die Muse schwieg.
„Na so was!“ rief da eine Stimme in ihrem gewohnt gelangweilten Ton.
Thalia musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Tyche war, die hinter ihr stand.
„Hallo,“ sagte sie, „wie geht's?“
„Wie immer,“ lachte Tyche, „ich lasse das Leben auf mich zukommen. Und wer ist das? Doch nicht etwa der …?“
„Genau,“ fuhr Thalia dazwischen, „das ist Jo. Josip Wellcomb.“
„Freut mich, freut mich wirklich,“ sagte Tyche und gab dem Mann die Hand. „Ich bin Ty.“
Ohne weitere Erläuterungen setzte sie sich, und Thalia lächelte Jo entschuldigend an. Der Mann blieb gelassen.
„Sie sind also eine Freundin von Lea,“ fragte er.
„Lea? Oh ja, natürlich. Wir sind ganz alte Freundinnen, kann man sagen.“
„Stammen Sie auch aus Kanada?“
Mit dieser Frage wusste Tyche nichts anzufangen und sie sah Thalia an.
„Wir kennen uns schon viel länger,“ antwortete sie daraufhin.
„Und hast du schon ...?“ Diese Frage richtete Tyche an die Muse.
Thalia hielt die Luft an.
„Hast schon was?“ fragte Jo.
„Ja, ich habe mich schon sehr gut hier in New York eingewöhnt,“ antwortete Thalia und stieß Tyche unter dem Tisch an, ohne dass diese dem Tritt sonderliche Beachtung schenkte.
„Oh gut, gut. Na, dieser hier scheint ja der Richtige zu sein. Ich muss weiter und wünsche euch beiden noch einen schönen Abend.“
Sie stand auf und hielt Jo die Hand entgegen.
„Hat mich wirklich gefreut. Auf Wiedersehen.“
Thalia und Jo sahen Tyche nach.
„Sie ist ein wenig seltsam,“ bemerkte der Mann.
„Oh ja,“ bestätigte Thalia. „Manchmal schon. Aber man gewöhnt sich daran.“
Sie schenkte das Glas voll Sake und wünschte sich allein auf eine fremde, unbewohnte Insel.
*
Thalias Entschlossenheit führte an diesem Abend zu nichts. Mehrmals versuchte sie mit Jo zu reden, aber jedes Mal sah er sie mit seinen wundervollen braunen Augen an und sie schwieg. Dann hatte er sie wieder geküsst. Dieses Mal jedoch hatte sie es gewusst und erhofft. Sein Zauber wurde stärker und Thalias Zweifel an die Durchführbarkeit ihres Auftrages wuchs.
An diesem Morgen kam Melpomene nicht zurück ins Hotel. Doch Thalia machte sich darüber keine Sorgen. Es freute sie sogar. So hatte sie genügend Zeit zum Nachdenken.
Jahrtausendelang hatte sie fremde Männer und manchmal auch Frauen geküsst, und es war in Ordnung gewesen. Es war ihre Berufung, und sie liebte ihren Job. Doch all diese Erlebnisse traten nun in den Hintergrund. Sie wusste, dass nichts mehr so sein würde, wie es jemals gewesen war.
Sie konnte diesen Auftrag nicht erledigen, nicht jetzt. In ein paar Jahren vielleicht, wenn der Zauber Jos verklungen war. Josip Wellcomb würde kein begnadeter Komödienschreiber werden. Er musste einfach warten.
Natürlich würde Zeus wütend darüber sein. Er war es gewohnt, dass seine Befehle sofort ausgeführt wurden. Aber wenn man es genau betrachtete, so machten ein paar Jahre doch eigentlich nichts aus. In einem halben Jahrtausend würden sie darüber lachen. Bis dahin würde Zeus Thalia bestrafen, doch das Schlimmste war, dass Josip Wellcomb ihr fehlen würde.
Doch einen Versuch, eine letzte Möglichkeit, wollte sie noch ergreifen. Sie musste mit ihm sprechen, und dies an einem neutralen Ort. Dort, so hoffte sie, würde sein Zauber nicht wirken, und wenn ihre Logik die Oberhand gewann, könnte doch noch alles gut werden.
So rief sie Jo an und verabredete sich mit ihm im Central Park.
Es war Sommer und die Bäume rochen nach Natur. Die Geräusche der Stadt drangen nur von Ferne wie eine dunkle Erinnerung zu ihr hinüber, als sie auf der Parkbank saß und hinunter auf den See blickte.
Jo schlenderte heran und setzte sich neben sie.
„Hier, das habe ich dir mitgebracht,“ sagte er und hielt ihr eine Popcornschachtel entgegen.
„Danke,“ sagte sie und stellte die Schachtel neben sich. „Jo, ich muss mit dir reden.“
Jo nickte und stützte seine Ellbogen auf die Oberschenkel.
„Es ist alles so schwierig,“ sagte Thalia.
„Findest du?“ entgegnete Jo.
„Nein, eigentlich nicht. Aber du weißt nichts von mir.“
„Dann erzähl mir von dir.“
„Nicht so, wie du meinst. Du weißt nicht, wer ich bin.“
„Doch, das weiß ich ganz genau. Du bist eine wunderbare Frau.“
Thalia seufzte.
„Aber auch ich muss dir etwas erzählen,“ sprach Jo weiter und wartete einen Augenblick, um Thalia die Möglichkeit des Fragens zu geben. Doch die Muse schwieg.
„Ich habe einen Job angenommen. Es ist nichts Großartiges. Ein Freund von mir hat ihn vermittelt. Ich bin nun Werbetexter in einer kleinen Agentur. Am Montag fang ich an.“
„Und deine Komödien?“ fragte Thalia.
„Das Theater ist eine unsichere Sache. Da kann man nicht planen, was morgen ist. Als Werbetexter habe ich mein sicheres Einkommen. Ich glaube, es wird langsam Zeit, sesshaft zu werden.“
„Ich verstehe das nicht,“ antwortete Thalia. „Du hattest dir doch so sehr gewünscht, Erfolg zu haben.“
„Ja, das habe ich,“ stimmte Jo ihr zu. „In den letzten Tagen aber habe ich erfahren, was ich noch viel lieber habe.“
Er sah Thalia auffordernd an. Als sie schwieg, fragte er:
„Du wolltest mir doch noch etwas von dir erzählen.“
„Das ist nicht so wichtig. Ich bin Lea und aus Kanada. Aber eines muss ich dir gestehen, ich bin viel älter als du denkst!“
Am Abend kehrte Melpomene zurück. Sie machte einen niedergeschlagenen Eindruck und Thalia fragte sie, was passiert sei.
„Joseph und ich haben uns getrennt,“ sagte Melpomene.
„Das tut mir leid,“ antwortete Thalia.
„Der Job ist erledigt. Ich bin die Muse der Tragödie. Trennung gehört zu meiner Grundausbildung. Joseph ist so traurig, dass er wundervoll schreiben wird.“
Thalia lächelte ihre Kollegin an.
„Komm, wir gehen nach Hause,“ sagte Melpomene.
„Geh du, ich kann noch nicht,“ entgegnete Thalia und umarmte die Muse der Tragödie.
*
„Es ist ungeheuerlich,“ sagte Klio am Frühstückstisch und ignorierte dabei Hermes, der mit einer Schreibfeder und Papier neben ihr saß.
Die anderen sieben Musen stimmten ihr zu.
„Sie wollte nicht mitkommen,“ sagte Melpomene, so als müsse sie sich persönlich dafür entschuldigen.
„Weiß sie, was Zeus dazu sagen wird?“ fragte Klio.
„Sie meinte, das wäre ihr egal. Sie ist nicht die Erste in der Geschichte und beruft sich auf einen Präzedenzfall aus dem Jahr 365 vor Christus.“
„Na gut,“ sagte Klio und lehnte sich zurück. „Wenn sie es so will. Dann muss sie nun allein mit der Situation fertig werden. Von mir erhält sie keine Unterstützung.“
„Das braucht sie auch nicht,“ antwortete Melpomene. „Sie hat eine Stelle als Kindergärtnerin angenommen. Dann würde sie eben Kinder zum Lachen bringen, meinte sie. Und außerdem solle ich sie Lea nennen.“
„Das ist ungeheuerlich,“ wiederholte sich Klio. „Doch was soll ich machen? Nur Apollon kann das entscheiden.“
„Der befindet sich im Urlaub,“ warf Hermes ein, ohne jedoch das Schreiben dabei einzustellen.
„Dann warten wir,“ entschied Klio. „Jeder Urlaub geht einmal zu Ende.“
Damit war das Thema für sie erledigt.
Melpomene war zufrieden. Diese Entscheidung brachten Thalia vielleicht zweihundert Jahre Zeit. Das müsste für Jo reichen, und schließlich war ihr doch auch mal ein wenig Muße zu gönnen.

Musen und Götter
Die neun Musen
Erato Liebeslyrik
Euterpe Flötenspiel, Gesang
Kalliope Epische Dichtung
Klio Geschichtsschreibung
Melpomene Tragödie
Polyhymnia hymnische Dichtung
Terpsichore Tanz
Thalia Komödie
Urania Sternenkunde
Götter:
Apollon
Hermes Götterbote
Tyche Göttin des Zufalls
Helikon Wohnort der Musen
Hippokrene Quelle der Musen am Helikon, geschaffen aus einem
Huftritt des Pegasus

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Interne Verweise

Kommentare

16. Nov 2016

Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...

LG Axel

15. Mär 2017

Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus

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