Die zehnte Muse - Page 3

Bild von Magnus Gosdek
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Straße hinunter, und war in wenigen Sekunden seinem Blick entschwunden.
*
Welch ein wundervolles Erwachen! Thalia lag in ihrem eigenen Bett in Helikon und hatte wunderbar geschlafen. Nichts ist mit dem Gefühl eines ausgeführten Auftrages zu vergleichen. Dankbarkeit gegenüber Tyche durchströmte sie. Dieses Mal war es wirklich knapp gewesen, aber es war alles zu einem glücklichen Ende gebracht und Thalia hoffte, nun endlich wieder einmal einhundert Jahre Ruhe bis zu ihrem nächsten Job zu haben.
Sie stand auf und trat zum Fenster. An der Quelle Hippokrene, die kaum fünfzig Meter vom Haus entfernt lag, tummelten sich Rehe und Terpsichore, die Muse des Tanzes, bemühte sich, ihnen einige der neuartigsten Schrittfolgen beizubringen.
Rehe waren dumme Tiere. Noch niemals hatten sie auch nur die geringste Kleinigkeit von Terpsichore gelernt, die Muse aber gab nicht auf. Thalia lächelte in sich hinein.
Unten im Esssaal saßen Erato und Euterpe am Klavier und übten ein neues Duett ein. Kalliope schimpfte sie, da sie sich in ihrem Denken gestört fühlte, und zwischendurch lief Klio geschäftig umher und organisierte das Frühstück.
Es war alles wie immer und Thalia freute sich, zu Hause zu sein.
Der Frühstückstisch war eine große Tafel. Immerhin mussten neun Musen an ihm Platz finden und ein zehnter Platz war immer frei, falls es Apollon wieder einmal einfallen würde, sie zu besuchen.
Fünf Diener eilten zwischen Speiseraum und Küche geschäftig hin und her und füllten die Glasschalen mit Obst und köstlichen Leckereien nach.
Sie hatten heute viel zu tun. Immerhin waren alle Musen anwesend. Nur Thalia war unterwegs gewesen. Die Aufträge waren in der jüngsten Vergangenheit äußerst rar geworden. Die Menschen glaubten nicht mehr an den Genius. Ihre neuen Götter hießen Information und Wissen, was die Musen zwang, sich fortzubilden.
Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, hatte sich vor kurzem einen Internetzugang legen lassen und verbrachte die meiste Zeit damit, Daten herunterzuladen und neu zusammenzustellen. Sie mochte ihre Arbeit nicht, zumal sie bereits vier Computerkurse für die neue Technik belegen musste.
Am schlimmsten aber hatte es Euterpe getroffen. Ihr Flötenspiel entsprach nicht mehr dem heutigen Standard, und was den Gesang anging, so sahen sich doch einige Menschen im Fernsehen bemüßigt, ihren Job zu übernehmen, wenn es auch offensichtlich war, dass sich der Erfolg immer nur für eine kurze Zeit einstellte.
Doch alles dies war an diesem Morgen in Helikon kein Thema. Einzig Thalias letztes Abenteuer bildete den Gesprächsstoff, und die Muse der Komödie musste ihren Kolleginnen bis ins kleinste Detail von Manhattan berichten.
Sie tat es mit Genuss und die übrigen acht versäumten nicht, ihr das notwendige Erstaunen zu zollen.
In dem Augenblick, in dem Thalia die merkwürdigen Damen ihres Hotels beschrieb, betrat ein Diener den Raum und direkt nach ihm ein weiterer Mann, der die höfische Vorstellung seiner Person nicht abwartete, sich stattdessen direkt auf dem zehnten Stuhl niederließ und seinen Teller füllte.
„Hermes, welche Überraschung!“ sagte Klio und legte dem Gast ihre Hand auf den Arm.
„Wie lange ist es her, dass du uns das letzte Mal besucht hast?“ ergänzte Polyhymnia und veranlasste Melpomene, die direkt neben ihr saß, zustimmend zu nicken.
„Ja, ja,“ entgegnete Hermes und begann sein Frühstück mit einem Berg von Rührei. Aber dann entsann er sich doch der Höflichkeit und fügte hinzu: „Eine Ewigkeit, meine Lieben. Seid versichert, um keinen Tag seid ihr gealtert. Es ist eine Wohltat für meine Augen, euch wieder zu erblicken.“
Die Musen lächelten. Sie mochten Hermes, und auch Thalia senkte ihren Blick und badete in seinen Worten.
„Ich habe eine unangenehme Sache,“ erzählte Hermes weiter, während er in unsagbarer Geschwindigkeit den Teller leerte. „Einfach scheußlich. Wir müssen sehen, wie wir sie möglichst geräuschlos lösen können.“
„Was ist es denn, was dich zu uns führt?“ fragte Klio.
Hermes aß weiter, so, als habe er sie nicht gehört, und erst, als er geendet hatte, lehnte er sich zurück und blickte durch die Runde. Einigen der Musen zwinkerte er schelmisch zu.
Dann sah er Thalia an.
„Meine Liebe,“ sagte er, „wie ich höre, hast du deinen letzten Auftrag ausgeführt.“
„Jawohl,“ entgegnete die Muse und ein gewisser Klang von Stolz war nicht zu überhören. „Josip Wellcomb aus Manhattan wird nun ein großer Komödienschreiber.“
„Möglich, möglich,“ erwiderte Hermes und linste auf das neu aufgetragene Obst. „Aber nicht sehr wahrscheinlich.“
„Nicht sehr wahrscheinlich?“ Thalia beugte sich vor. „Ich denke, das ist sicher. Oder zweifelst du an meinem Kuss?“
Hermes hob abwehrend die Hände.
„Meine liebste Thalia, dein Kuss ist so sicher, wie Zeus unser Vater ist. Daran gibt es nichts zu deuten. Die Frage ist nur, wen du damit beglückst.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Klio.
Hermes lächelte und nahm sich eine Birne.
„Nun, nichts weiter, als dass Thalia in Manhattan einen Bühnenautor geküsst hat.“
„Also?“ Thalia sah ihn auffordernd an.
„Leider war es nicht Josip Wellcomb, sondern Joseph Walcott.“
„Das ist vollkommen ausgeschlossen!“ entgegnete Thalia entrüstet.
„Wirklich?“ entgegnete Hermes. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“
Er sah Thalia auffordernd an.
„Ich habe doch seinen Namen auf dem Deckblatt gelesen.“
„Nein, es war dunkel, du konntest ihn gar nicht richtig lesen.“
„Aber Tyche …“
Hermes lachte, die Musen aber schwiegen.
„Tyche, ja. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie sollte dir helfen. Es war ein mühsames Gespräch. Sie wird langsam alt, hört nicht mehr richtig.“ Mit dem Finger deutete er wie zur Bestätigung auf sein Ohr.
„Sie erzählte mir alles. Natürlich half sie dir, Joseph Wallcott zu finden.“
„Aber ...,“ nun wusste Thalia nichts mehr darauf zu erwidern.
„Nun,“ sprang Klio ein, „so schlimm wird das doch wohl nicht sein. Dann wird eben Joseph Walcott der begnadete Komödienschreiber. Was macht das für einen Unterschied?“
Hermes beschäftigte sich weiterhin mit seiner mittlerweile fast abgenagten Birne.
„Was macht das schon für einen Unterschied? Joseph Walcott ist ein Dramatiker und kein Komödiant.“
„Und?“
„Dies hat zur Folge, dass sich die Leute jetzt bei seinen Dramen köstlich amüsieren und seine Werke unbedingt als Komödien aufführen wollen. Der Gute ist am Boden zerstört.“
„Immerhin wird er berühmt,“ gab Klio zu bedenken.
„Das ist nicht genug. Er glaubt nun fest daran, als Dramatiker versagt zu haben und spielt ernsthaft mit dem Gedanken, sich umzubringen.“
„Oh.“
Die Musen schwiegen und sahen aneinander an.
„Schicken wir Melpomene zu ihm. Sie soll ihn ebenfalls küssen,“ schlug Erato vor und die anderen stimmten ihr zu.
„Ich denke, das ist keine gute Idee,“ entgegnete Hermes. „Zwei Küsse entwurzeln unseren kleinen Schriftsteller vollends.“
„Kann ich

Musen und Götter
Die neun Musen
Erato Liebeslyrik
Euterpe Flötenspiel, Gesang
Kalliope Epische Dichtung
Klio Geschichtsschreibung
Melpomene Tragödie
Polyhymnia hymnische Dichtung
Terpsichore Tanz
Thalia Komödie
Urania Sternenkunde
Götter:
Apollon
Hermes Götterbote
Tyche Göttin des Zufalls
Helikon Wohnort der Musen
Hippokrene Quelle der Musen am Helikon, geschaffen aus einem
Huftritt des Pegasus

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Interne Verweise

Kommentare

16. Nov 2016

Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...

LG Axel

15. Mär 2017

Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus

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