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dass sie ihn nicht unterbrach. Manchmal fragte er nach ihr, was sie so mache und wo sie herkam. Ihre Antworten waren jedoch sehr kurz und nebulös. Sie wäre in den Bergen aufgewachsen und wohne mit ihrer Familie auf einer Lichtung im Wald. Jo entschied, dass sie Kanadierin sein müsse.
Dann erzählte er von seinem Leben in New York. Wie er Zeitungen austrug und in einem Elektroladen arbeitete. Er musste schließlich Geld zum Leben verdienen.
„Meine Stücke bringen einfach nichts ein,“ erklärte er.
„Also Schriftsteller?“ fragte Thalia
„Bühnenautor,“ verbesserte Jo.
„Wurde schon was aufgeführt?“ wollte Thalia wissen.
„Bislang noch nicht,“ antwortete Jo und strahlte Thalia dann an. „Aber das wird schon.“
„Was schreiben Sie?“
„Komödien.“
Thalia wurde unruhig. Auch wenn die Drinks derzeit die Kontrolle über ihren Geist übernommen hatten, so wusste sie sehr wohl, dass dieses Wort derzeit eine enorme Bedeutung für sie darstellte. Und wie hatte Sally ihn noch genannt? Jo?
„Sie schreiben Komödien?“ wiederholte deshalb Thalia mechanisch.
„So ist es. „Der Punkt im Kreis“ wurde sogar fast einmal aufgeführt. Aber das Theater ging leider Pleite. War etwas außerhalb von New York. Naja, immerhin machte mir das Mut. Eines Tages wird mein Name auf den Broadway stehen. Josip Wellcomb!“
Thalia verschluckte sich am Tee und hustete.
„Sie sind Josip Wellcomb?“ fragte sie, nachdem sie sich von dem Anfall erholt hatte.
„Kennen Sie mich? Sind Sie eine Theateragentin?“ wollte Jo wissen.
Als Thalia den Kopf schüttelte, sagte er:
„Ich komme fast täglich hierher, in der Hoffnung, die richtige Person kennenzulernen. Beziehungen sind heutzutage das einzige Mittel, was macht braucht.“
„Das glaube ich Ihnen gerne,“ antwortete Thalia.
Mit einem Schlag war ihr Kopf klar geworden. Ob dies an der Mischung von Borax-Pulver und Tee oder an der plötzlichen Erkenntnis lag, wusste sie nicht zu sagen. Sie war versucht, sich sofort auf ihn zu stürzen und auf die Stirn zu küssen. Ihre letzten Erfahrungen hatten sie jedoch vorsichtig werden lassen. Dieser Mann saß ruhig neben ihr und es würde sich eine bessere Gelegenheit bieten, ihren Auftrag auszuführen.
Josip Wellcomb begann jetzt in epischer Länge über seine Erlebnisse in der Stadt zu berichten, dass Thalia ihn bereits in Verdacht hatte, bereits einmal von Kalliope geküsst worden zu sein. Trotzdem hörte sie ihm nun viel aufmerksamer zu.
Nach einer ganzen Weile, die nur in fünf Tassen Tee zu ermessen war, sah Jo auf seine Armbanduhr und meinte:
„Es wird langsam spät. Ich möchte morgen früh gern schreiben. Aber am Abend bin ich wieder hier. Sehen wir uns vielleicht wieder?“
„Natürlich,“ antwortete Thalia, ohne dass sie überlegen musste.
„Wunderbar. Dann bis morgen.“
Er beugte sich herüber und küsste sie auf die Wange. Dann stand er auf und ging.
Thalia saß da und war nicht in der Lage, sich zu bewegen.
*
Am anderen Morgen redete Melpomene auf sie ein, doch Thalia hörte nicht auf sie. Sie hatte ein Problem. Josip Wellcomb hatte sie geküsst.
Dies kam in ihrem Plan nicht vor. Dies kam in überhaupt keinem Plan für Musen vor, und sie waren darauf auch nicht geschult worden. Wer würde dies überhaupt wagen?
Doch es war geschehen und nun, nachdem sie Jos Kuss auf ihrer Wange noch immer spürte, bemerkte sie, dass von einem Sterblichen ebenfalls musische Fähigkeiten ausgehen konnten. Ihre Gedanken an Jo waren nicht so distanziert, wie sie hätten sein sollen. Sie dachte in Gefühlen, die sie vorher nicht gekannt hatte.
Auch wenn sie nur erahnte, wie die Menschen diese Gefühle nannten, so wusste sie eines mit Gewissheit, in diesem Zustand war es für sie vollkommen unmöglich, ihre Kräfte auf einen anderen zu übertragen. Jo hatte sie durch eine Bewegung musisch sterilisiert.
Thalia war sehr wohl in der Lage, diese Situation objektiv zu betrachten, aber letztendlich war es ihr egal. Sie konnte es kaum abwarten, dass es Abend wurde und sie ihn wieder sehen könne, und hierbei dachte sie nicht an ihren Auftrag.
Melpomene erzählte von einer tieftraurigen Idee, die Joseph gestern begonnen hatte zu Papier zu bringen. Es war wundervoll, meinte sie, und als sie ihn vor Freude geküsst hatte, wurde die Geschichte noch viel trauriger.
„Du hast ihn wieder geküsst?“ fragte Thalia.
„Joseph meinte, das inspiriere ihn,“ antwortete Melpomene.
Dagegen ließ sich wirklich nichts einwenden.
„Hat er auch dich geküsst?“ wollte Thalia wissen.
„Er mich? Wie meinst du das?“
„Vergiss es,“ sagte Thalia zerstreut.
„Ich glaube in ein oder zwei Tagen ist er über den Berg. Langsam gewöhnt er sich an den Gedanken, dass seine Geschichten immer ein wenig zum Lachen anregen. Er überlegt bereits, ob er nicht politische Reden schreiben sollte.“
Thalia sagte nichts. Ein oder zwei Tage. Dies war alles, was ihr blieb. Nun, immerhin hatte sie Josip Wellcomb aufgespürt. Sie hatte die Möglichkeit, ihren Auftrag auszuführen. Dafür waren zwei Tage lang genug. Doch vorher musste sie ihre Gefühle in den Griff bekommen. Dazu waren zwei Tage viel zu kurz. Zumal sie es im Augenblick auch gar nicht wollte.
*
Der Abend war wundervoll. Thalia hatte sich in den letzten Jahrhunderten nicht mehr so amüsiert. Nachdem sie sich in der Kneipe getroffen hatten, waren sie tanzen gegangen. Jo kannte einige Clubs in der Stadt, und Thalia war es nicht wirklich schwer gefallen, die neumodischen Tänze zu lernen. Insgeheim freute sie sich darauf, Terpsichore damit zu beeindrucken, wenn sie heimkommen würde.
Die Nacht verging viel zu schnell. Einige Male hätte sie wohl die Möglichkeit gefunden, ihren Auftrag auszuführen, doch hatte sie sich davor gescheut. Vielleicht wirkte es gar nicht, vielleicht aber – und das war viel schlimmer – würde Jos Zauber vergehen.
Aber so verging er nicht, stattdessen wuchs er. Und wie Thalia zu bemerken glaubte, wirkte er auch bei dem Urheber.
Jo hatte sie für den folgenden Tag zum Essen eingeladen, doch Thalia hatte abgelehnt. Derzeit waren ihre Gedanken verwirrt, und sie musste Zeit gewinnen, Klarheit zu schaffen.
Melpomene erklärte ihr, dass sie mit ihrer Vorhersage von zwei Tagen ein wenig zu optimistisch gewesen sei und Joseph Walcott noch viel mehr Inspiration benötigte. Inzwischen konnte Thalia sich vorstellen, was ihre Kollegin damit meinte.
Es störte sie nicht. Ihre Schonfrist wurde damit verlängert, und trotzdem wusste sie, dass sie mit jemanden sprechen müsste.
Erato war die Richtige. Immerhin war sie die einzige Kollegin, die sich in den Gefühlszuständen dieser Art auskannte.
Als Melpomene sich am Nachmittag verabschiedete, eilte Thalia eiligst nach Helikon und – ohne dass Klio
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Kommentare
Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...
LG Axel
Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus
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