Die zehnte Muse - Page 2

Bild von Magnus Gosdek
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einer Begegnung waren äußerst gering. Sollte sie, die Muse der Komödie, als erste ihrer Zunft scheitern?
Dieser Gedanke ärgerte sie. Mehr noch, in Thalia erwachte ein Kampfgeist, den sie vorher in dieser Form nie gekannt hatte.
Immerhin war sie eine ausgebildete und äußerst erfolgreiche Muse. War sie es doch gewesen, die aus einem durchschnittlichen französischen Theaterschauspieler einen der bekanntesten Komödienschreiber erschuf. Zugegeben, der Kuss hatte ihr Überwindung gekostet, aber sie hatte es getan und später keinen Ausschlag an der Lippe bekommen. Wer so etwas über sich ergehen ließ, konnte sich wohl kaum von einem kleinen Schreiberling aus Manhattan aufhalten lassen!
Das Problem bestand einfach darin, dass es von allem zu viel gab. Zu viele Menschen, zu viele Häuser. In früheren Zeiten hatte sie den Auserwählten sehr leicht gefunden. Es gab nur wenige, die sich mit solchen Dingen wie den schönen Künsten beschäftigten, und wenn es einer tat, so war er in seiner Umgebung auch bekannt. Spätestens im Kerker war sie immer fündig geworden.
Hier aber konnte jeder der Auserwählte sein und niemand interessierte sich für ihn. Wie sollte man jemanden finden, wenn man nicht wusste, wo er zu suchen war?
Für solche Situationen war Thalia nicht ausgebildet worden. Sie war ein Vollstrecker, kein Vorbereiter. Nun hatte sie sich mit Nebensächlichkeiten auseinander zu setzen und der Gedanke daran machte sie wütend.
So sehr sie ihre Lage auch bedachte, sie fand keine Lösung, und schließlich musste sie die Tatsache akzeptieren, dass sie Hilfe benötigte.
Es musste jemand sein, der sich mit solchen Situationen auskannte und sie zu lösen vermochte. Eine Person, die pragmatisch genug war, anzupacken und nicht über die Ausweglosigkeit der Situation lamentierte.
Thalia überdachte all die Bekannten aus der Götterwelt, aber niemand schien ihr auch nur ansatzweise diesen Voraussetzungen zu genügen. Sie alle waren stark und mächtig, letztendlich aber doch sehr simpel in ihrer Denkweise. Hier war Sensibilität gefragt, jemand, der die Graustufen des Lebens kannte und für sich ausnutzte.
Auch ihre Kolleginnen aus Helikon schienen denkbar ungeeignet und dann, als wenn sie sich selber geküsst hätte, kam die Erkenntnis.
Thalia hatte Tyche schon lange nicht mehr gesehen. Die Zeit ihrer großen Aufträge war vorbei und nun beschäftigte sie sich mit kleineren Sachen, von denen die Welt nicht wirklich erfuhr. Dies verschlug sie in die entlegensten Winkel der Erde und nur Hermes wäre in der Lage gewesen, ihren derzeitigen Aufenthaltsort anzugeben.
Im Zeitalter des Mobilfunks hatte seine Hauptaufgabe als Götterbote sehr stark nachgelassen und Hermes hatte sich ein neues Aufgabengebiet gesucht. Seine Olymp-Illustrierte berichtete über Zeus' neueste Skandale, genauso wie über die heimlichen Liebschaften unter den niederen Göttern. Informationen waren sein Geschäft, und hierfür hatte er eine vierundzwanzig-Stunden-Hotline eingerichtet.
So war es für Thalia nicht schwer, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und zu ihrem Erstaunen erfuhr sie, dass Tyche sich momentan ebenfalls in Manhattan aufhielt. Wie Hermes ihr erzählte, beschäftigte sie sich gerade mit einem kniffligen Fall, der irgendwie mit Giganten und Cowboys zu tun hatte, die sich am Sonntag trafen, und Tyche dafür zu sorgen hatte, dass die Cowboys gewannen, was Thalia allerdings nicht so richtig verstand.
Hermes besaß Tyches Adresse, und es dauerte nur einen halben Tag, bis Thalia die Göttin des Zufalls am Hotdogstand der 43. Straße traf.
Tyche war in den Jahren seit dem letzten Zusammentreffen sehr gealtert. Sie wirkte erschöpft und erklärte Thalia, sie würde ihre Tage damit verbringen, irgendwelche Spielregeln auswendig zu lernen, die im Orgienrausch erstellt worden sein müssen.
Thalia hörte ihr teilnahmsvoll zu und berichtete dann von ihrem Problem. Tyches Gesicht hellte sich während der Erzählung auf. Sie meinte, dies sei doch endlich mal wieder eine willkommene Abwechslung. Diesen Josip Wellcomb oder wie er hieß würde sie im Handumdrehen ausfindig machen. Thalia brauche sich nicht zu sorgen. Sie solle nur ruhig wieder in ihr Schnellrestaurant zurückkehren und innerhalb von zwei Tagen wäre die Sache geregelt.
Thalia freute sich über diese Hilfe und sicherlich wäre es ein angenehmer Abend geworden, hätte sie nicht den Rest des Tages auf der Toilette verweilt. Sie nahm sich vor, in Zukunft die Hotdogs der Stadt zu meiden.
Am darauf folgenden Tag hatte sie Schicht und das Schnellrestaurant war zum Bersten gefüllt. Kaum, dass sie Zeit fand, sich die Gäste zu betrachten, schleppte sie die Teller an die Tische und später wieder zurück in die Küche.
Die Gäste unterschieden sich in nichts von denen der vorhergehenden Tage. Und doch hatte Thalia heute eine Unruhe erfasst, von der sie nicht sagen konnte, auf was sie sich begründete. Möglicherweise war es Tyches Optimismus. Wenn die Göttin wirklich Recht behielt, so musste in den beiden nächsten Tagen etwas geschehen.
Doch der Tag verging, ohne dass Thalia Josip Wellcomb entdeckte. Am späten Abend, während sie das Restaurant verließ, war ihre Zuversicht gesunken. Tyche war eben alt geworden und das, was sie früher mit Leichtigkeit bewerkstelligte, ging ihr nicht mehr so einfach von der Hand. Es war eine Tragödie, dass sie gerade in dem Augenblick versagte, in dem sie am meisten gebraucht wurde.
In diesen Gedanken versunken stapfte Thalia über den Gehsteig hinunter zu ihrem Hotel.
Gerade in diesem Augenblick, als sie über die Straßenkreuzung zu gehen beabsichtigte, kam ein Mann um die Ecke geeilt. Er schien es sehr eilig zu haben. Die Umgebung schien er kaum zu beachten und so kam es, dass er unversehens in Thalia hineinlief.
Beide fielen zu Boden und die Mappe, die der Mann vor sich gehalten hatte, landete ebenfalls auf dem Bürgersteig. Papier ergoss sich daraus, und kaum dass Thalia wusste, wie ihr geschah, sprang das kleine Männchen bereits wieder auf die Beine und sammelte das Papier ein.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen,“ sagte Thalia und machte sich daran, auf den Knien auf der Straße umherzukrabbeln.
„Was für ein Pech,“ murmelte der Mann und ignorierte Thalia völlig. Sie schob die Papiere zusammen. Das Licht war trübe und so konnte sie nur wenig auf den Seiten lesen. Immerhin aber machte sie auf dem Deckblatt des offensichtlichen Theaterstückes den Namen des Autors aus. Josip Wellcomb.
Oh wundervolle Tyche! Gerade in dem Augenblick, als sie die Worte entziffert hatte, sprang sie auf die Beine, umarmte das verdutzte Männlein und küsste es auf die Stirn.
Noch ehe der Mann etwas zu sagen vermochte, eilte sie davon, die

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Kommentare

16. Nov 2016

Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...

LG Axel

15. Mär 2017

Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus

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