Ich glaube nicht, dass ein Mensch nur einmal in seinem Leben richtig lieben kann. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass es aus einer Vielzahl von Lieben besteht. Der größte Teil von ihnen wirkt nur in einer flüchtigen Sekunde, in einem Augenblick vollkommener Harmonie, wenn sie erblüht und gleichzeitig vergeht. Und meist werden sie vergessen, verwandeln sich in Sympathie, die ihre Herkunft nicht erklären kann und sich nur an der astronomischen Rotverschiebung einer gewissen Vertrautheit vermuten lässt.
Einige wenige entstehen aus Situationen, wirken in ihnen und erst, wenn sie vorüber gehen, verlieren sie ihre gewaltige Kraft, ohne jedoch ganz überwunden zu werden.
Sie mochte ich von dem Augenblick an, als wir uns kennenlernten. Sie entsprach meinem Bild von einer Frau. Vielleicht lag es an ihren Augen, diesen tiefen, eindringlichen graublauen Pupillen, die sich einem zuwandten und nicht gestatteten, dass man wegsah. Oder ihr dichtes, mahagoniglänzendes Haar, das ihr in sanften Wellen auf die Schultern fiel. Jedenfalls war ich ihr in meinem Inneren zutiefst zugetan, wie Männer es zu Frauen nun einmal sind.
Was sie über mich dachte, wusste ich nicht und wahrscheinlich war es auch gut so. Immerhin war ich fast achtzehn Jahre älter, so dass ihre Meinung wohl kaum sehr schmeichelhaft für mich ausgefallen wäre. Doch war ich mir sicher, durchaus als nett bei ihr eingestuft worden zu sein, was sich aber genauso gut auf Gegenstände und Ereignisse wie auch auf menschliches Verhalten beziehen konnte.
Dass wir beide auf die gleiche Party eingeladen worden waren, lag nicht in unserer Macht. Und auch nicht, dass die Feier zu einer der langweiligsten gehörte, an der ich in diesem Fall tatsächlich das Pech hatte, teilzunehmen. Weder sie noch ich kannten die anderen Gäste, uns aber immerhin gut genug, um uns gegenseitig Trost zuzusprechen.
Wir wollten nicht nur sitzen und starren, das wurde von den anderen schon meisterlich getan. Und wir wollten auch nicht trinken, bis der Pegel schnell und sicher überschritten wurde (auch das erledigten die anderen nebenbei mit). Wir wollten heiter sein.
Der Tanzfläche wurde an diesem Abend die größte Schmach zuteil, die sich für ein solches Objekt vorzustellen war. Sie wurde nicht benutzt und auch wir zierten uns zunächst, an diesem Zustand etwas zu ändern.
So standen wir ein wenig verloren an der improvisierten Bar, suchten nach Themen, die sich für einen Small-Talk eigneten, ignorierten unsere Enttäuschung und warteten auf ein Wunder.
Zu unser beider Leidwesen handelte es sich bei der Feier um einen Geburtstag, in den hineingefeiert wurde und so sahen wir uns außer Stande, frühzeitig zu gehen, ohne dabei die Gastgeberin zu beleidigen, was sicherlich nicht in unserem Sinn lag.
Wir rauchten zuviel und auch wenn wir uns dagegen sträubten, so schwand die gute Laune mit jeder Minute mehr. Glücklicherweise gehörten wir beide zu jener Spezies gutmütiger Menschen, die in ihrer Grundstimmung heiter waren und wir behielten die Fassung, suchten nach den Schlupflöchern dieser Hölle, der Hitze wenigstens für einen Augenblick entgehen zu können.
Es war uns beiden klar, dass wir tanzen mussten. Sie war groß, fast einsachtzig und mir, gut zwanzig Zentimeter größer, war es angenehm, um eine Partnerin zu wissen, deren Schrittlänge nicht wesentlich von der meinen abwich. Wir konnten einen Foxtrott wagen und sie signalisierte mir ihre grundsätzliche Bereitschaft schon früh, doch ebenso den Hinweis, dass die Musik sich nun nicht dafür eignete.
Ich hätte es als Abfuhr gewertet, was von ihrer Seite zu Beginn auch durchaus so gemeint gewesen sein konnte und ergab mich in mein Schicksal.
Doch sei es, dass ich mich irrte oder sie sich eines Besseren besann. Es kam der Augenblick, in dem sich ihre Augen auf mich richteten, die Lippen zu einem Lächeln öffneten und sie mich aufforderte:
„Frag mich!“
Dass wir allein auf der Tanzfläche waren, störte uns nicht. Wir hatten keine Zeit dazu. Unser Augenmerk lag auf das Bestreben, dem anderen nicht auf die Füße zu treten. Doch das geschah nicht. Unsere Schrittlängen passten wundervoll zueinander und langsam genossen wir die außergewöhnliche Möglichkeit, uns unserer Größe entsprechend auszutanzen.
Wir wiederholten es einige Male. Draußen wurde es dunkler, bis der unvermeidliche Augenblick des Gratulierens eintrat, dessen Verlauf ich in dieser Erzählung jedoch unerwähnt lassen möchte.
Die letzten Gäste kamen gegen zwei Uhr nachts. Zu diesem Zeitpunkt waren schon eine ganze Reihe der abendlichen Besucher gegangen und mit dem Wechsel änderte sich die Mentalität der Party. Die nun Eingetroffenen wollten feiern und sie wollten tanzen. So wechselten wir häufig die Partner, nicht ohne jedoch immer wieder zueinander zurückzukehren. Eigentlich taten wir es nur bei den Standardtänzen; jenen Augenblicken, wenn der Mann die Frau im Arm hält und sich beide auf den anderen verlassen müssen.
Während der Tänze unterhielten wir uns unverbindlich und scherzten miteinander. Sie besaß ein herrliches Lachen, das ich ihr dicht an meinem Ohr entlocken konnte, da ich mich zu ihr hinunterbeugen musste, wenn ich etwas sagen wollte.
Nächte verfügen über einen Zeitpunkt, an dem sie stiller werden. Wenn auch nicht die Musik, so doch die Menschen. Vielleicht ist es ein Urinstinkt, der in diesen Augenblicken die Sicherheit des Schlafes sucht und dabei gleichzeitig die Seele öffnet. In unserem Fall sahen wir uns nur ein wenig länger in die Augen, als zu Beginn. Während wir so weitertanzten, plauderten wir über alles, was uns gerade einfiel, nur um die Stille nicht einkehren zu lassen.
Aber wir wussten auch, dass die Feier sich nun langsam dem Ende zuneigte und so rang ich ihr das Versprechen eines letzten Tanzes ab.
Wir saßen uns schräg gegenüber am Tisch, als dieser Moment kam. Und auch wenn die ganze Nacht über mir die Rolle zugefallen war, sie aufzufordern, so war es dieses Mal sie, die meinte, dies sei unsere letzte Chance.
Wir trafen uns ein wenig abseits auf der Tanzfläche und ich legte ihr meinen Arm auf den Rücken. Sie sagte, dass sie gleich nach Hause gehen würde und ich entgegnete, dass ich gelogen hätte, wenn ich vorhin behauptete, dies wäre unser letzter Tanz.
Sie lachte.
„So etwas machst du?“ fragte sie.
„Sicher“, entgegnete ich und sie lachte wieder.
Dann schwiegen wir und wiegten uns im Schritt. Sie war mir nah, ein Stückchen mehr als noch zuvor. Den Kopf hatte sie zur Seite gewandt und ich konnte ihre Haare riechen. Unsere Körper berührten sich bei jedem Richtungswechsel. Zart stießen wir zusammen, ganz so als gehöre es zum Tanz und niemand von uns beiden nahm es zum Anlass, den Abstand zu vergrößern. Wir schwiegen. Der Augenblick des Redens war vorüber gegangen und es war uns unmöglich geworden, diese Stille zwischen uns zu brechen. Sie wandte mir den Kopf zu und sah mich schräg aus den Augenwinkeln heraus an. Sie lächelte dabei. Ich blickte zurück und lächelte ebenfalls. Ein wenig verschämt wandte sie den Kopf ab und ich starrte an ihr vorbei zur Wand, fühlte ihre Hände, ihren Körper, roch ihr Haar und wünschte mir in diesem Augenblick, der Tanz möge nie enden. Sie sah mich wieder schräg von unten an und ich wusste, dass sie es genauso empfand. Wir waren so leise ineinander, dass wir keine Sprache mehr benötigten.
Ich bemerkte den Schlag meines Herzens und war sicher, dass auch sie es hören konnte. Zittern überfiel mich, ein leichtes Kribbeln direkt in den Poren der Haut und so, als ob sie es bemerkte, sah sie mich wieder an, mit einem Niederschlag der Wimpern, den ich nur erwidern konnte und kein Missgeschick brach den Zauber, ließ uns auflachen in der Heiterkeit des Ereignisses.
Als die Musik endete, beugte ich mich nah zu ihrem Ohr hinunter. Eine Strähne ihres Haars fiel auf meine Wange und sie presste ihren Kopf nah an meinen Mund. Was ich sagen wollte, war mir verboten. Wenn sie es auch wusste, war es mir, als hätte sie es gern gehört.
So dankte ich ihr nur für diesen wundervollen Abend, an dem ich die Tänze mit ihr genossen hatte. Sie gab es mir zurück. Ich wusste, dass sie es genauso meinte.
Als ich an den Tisch zurückkehrte, zitterte ich noch nach und mein Atem ging flach. Ich vermied den Blick zu ihr hinüber und sie tat es ebenfalls. Niemals würde es vollkommener werden. Für mich war die Party vorüber.
Kurz darauf ging sie. Zum Abschied küssten wir uns auf die Wangen. Die Zartheit war gewichen und Konventionen hatte an ihr die Stelle eingenommen.
Doch klang sie in mir nach; lange noch, nachdem sie gegangen war und selbst heute noch fühle ich sie in meinem Arm, so, als würde der Tanz für ewig dauern.
Männer zu Frauen
von Magnus Gosdek
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- Autorin/Autor: Magnus Gosdek
- Prosa von Magnus Gosdek
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Klassisch
Kommentare
Elektrisiert den Text gelesen -
Beim Tanz quasi dabei gewesen!
LG Axel
Ich auch :-) Danke schön, dass es Dir gefällt. LG Magnus
Du vermittelst wirklich das Gefühl dabei gewesen zu sein!
Liebe Grüße,
Angélique
Dann habe ich mein Ziel erreicht. Vielen Dank, Angélique. LG magnus
Dann habe ich mein Ziel erreicht. Vielen Dank, Angélique. LG magnus
Deine Art, Gefühle so wunderbar subtil zu beschreiben, gefällt mir außerordentlich gut!
Ich habe die Geschichte jetzt zum zweiten Mal gelesen, weil sie mir so gefällt!
Viele Grüße,
Corinna
Vielen Dank, Corinna. Schön, dass Dir die Geschichte gefällt. Viele Grüße Magnus