TUCHOLSKY’S „GUSTAV DER VERSTOPFTE“

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Ein Freund von mir veröffentlicht im Internet wöchentlich ein „GdW“, ein „Gedicht der Woche“. Jüngst nun las ich folgendes:

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Hallo zusammen,

beim Gang über den Stummplatz in Neunkirchen schaute ich mir das Denkmal für den "Schlacke-Karl" (Anm.: Carl Friedrich Stumm, geb. 10. Januar 1798 in Abentheuer, gest. † 24. Februar 1848 in Neunkirchen, war ein preußischer Unternehmer in der Montanindustrie) etwas genauer an. Und da kam mir ein Gedicht von Tucholsky in Erinnerung, in dem er zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs das Einschmelzen von eisernen Denkmalen, die dann zum Bau von Kriegswaffen bei Krupp verwandt wurden, glossierte. Und das soll heute das GdW sein.
Nun sollte aber niemand schlussfolgern, dass ich für die Demontage des Stumm'schen Denkmals plädiere...
Übrigens: mir ist leider nicht klar, um wen genau es sich bei dem im Gedicht erwähnten "Gustav der Verstopfte" handeln könnte. Kann da jemand aus der GdW-Gemeinde Aufklärung leisten?

Ein schönes Wochenende wünscht mit besten Grüßen
(sein Name)

DENKMALSSCHMELZE
Von Kurt Tucholsky

Da steht nun Gustav der Verstopfte,
aus Eisenguß, die Hand am Knauf.
Jedwedes brave Herze klopfte
und schlug zu jenem Standbild auf.

Und da – ? Er wackelt auf dem Sockel,
man gab ihm einen kräftigen Schub.
Die Adler, seine Ruhmesgockel,
das kommt nun alles hin zu Krupp.

Ein kleiner Hund ist der Entente
vermutlich brüderlich gesinnt.
Er schnuppert an dem Postamente
und hebt das Bein. Die Träne rinnt.

Doch plötzlich sieht sein Aug nach oben.
Der Fürst ist weg! Wer weiß da Rat?
Sein Hinterbein bleibt zwar erhoben,
doch tut er nicht mehr, was er tat.

Du kleiner Hund, sei nicht verwundert.
Man kanns verstehn. Du bist verdutzt.
Denn seit dem Jahre Siebzehnhundert
hat ER zum ersten Mal genutzt.
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Ich schrieb also dem Freund folgende Zeilen:

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Hallo mein Freund,

zum Thema einer historisch verbürgten Person, die als "Gustav der Verstopfte" überliefert wurde, kann ich Dir nicht viel Neues dazu geben. Ich konnte zwar per Internet noch einen zweiten dieser Namensgebung entdecken, der stammt aber auch wiederum von Tucho, und er taucht in seinem Gedicht „Die Trommel“ auf („Der einst dem Feind die Hosen klopfte, / der hieß wohl Gustav der Verstopfte. / Die Soldaten, ja, die taten für den Fürsten alles ganz umsonst. / Und sie trugen bunte Fahnen und Gewehre, / aber vorneweg marschiert vorm ganzen Heere / eine Trommel, eine Trommel, eine Trommel, / radibimmel, radibammel, radibommel...“).

Vielleicht hat es ja einen real existierenden verstopften Gustav nie gegeben, und Tucholsky hat ihn - aus gedichtstechnischen Gründen freiweg erfunden. Betrachtet man nämlich den Satz in der ersten Strophe „Da steht nun Gustav der Verstopfte, aus Eisenguß, die Hand am Knauf. Jedwedes brave Herze klopfte und schlug zu jenem Standbild auf.“, so erkennt man sofort die Zwangslage: ein Herz „schlägt“ normalerweise, hier tut es dieses im zweiten Satz, ist also aus Gründen der Wortwiederholung für den ersten zu vernachlässigen.

Zudem ist die Imperfektform von „es schlägt“ „es schlug“, taugt also durch seine Einsilbigkeit nicht für die dritte Strophenzeile. Und aus Verlegenheitsgründen ein „schlugte“ hinzubiegen und sich auf dichterische Freiheit zu berufen, das war nicht des guten Kurt sein Ding. Ein Gedicht soll auf Anhieb sitzen und darf keinen drei Din-A-4-Seiten-Anhang hinter sich herschleppen unter den Titel „Wie und warum lese ich gerade dieses Gedicht, und wie verstehe ich, was mir der Dichter mit welchen Mitteln sagen will. Mit ausführlichem Worterklärungsteil.“ Und selbst wenn: auf welchen Gustav hätte es sich reimen sollen? „Gustav der Befugte“?, „Gustav der Bekrugte“?, „Gustav der Vergnugte“? – Lassen wir das also!

Was macht ein Herz noch? Synonymtechnisch „pocht“ es auch. Im Imperfekt „pochte“ es, wäre also metrummäßig machbar. Aber der Gustav! „Gustav der Gemochte“?, „Gustav der Gelochte“, „Gustav der Verknochte“ oder gar „Gustav der Gekochte“???

Sich dieses Dilemmas bewusst blieb Tucholsky nur das klopfende Herz übrig, sonst war kein herztätigkeitsbeschreibendes Verbum mehr zur Stelle. Und so war Gustav, der auch weder verkropft, verklopft, vertropft, verhopft, beschopft, bezopft, beknopft oder gepfropft sein wollte, zu dem erwähnt „Verstopften“ geworden, wessen er sich auch nicht zu schämen brauchte, denn die Obstipation ist weitverbreitet und nicht unheilbar. Wenn sie denn nicht mal chronisch wird...

vcj