Der Verlorene (Anfang des Romans)

Bild von wolfgang tietze
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Am gestrigen Tag wurden in Heisingen eine sechsunddreissigjährige Frau und zwei Kinder in ihrem Haus erschossen aufgefunden.
Bei dem Täter handelt es sich vermutlich um den Ehemann, technischer Angestellter einer Bank, der sich bei Spekulationen an der Börse ruiniert hatte.

(Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 28. Juni)

I. Der Brief an den Freund

Das kleine Päckchen, das mir die Sekretärin herein-gereicht hatte, war ohne Absender. Der Briefmarke und dem Stempel nach kam es aus Mexico City.
Auf der linken Seite diagonal von unten nach oben standen zwei Zeilen: „Wenn der Boden des Glases verödet ist/ stoßen die Münder an das Glas wie an ei-nen Toten.“ Im Umschlag befand sich ein weitereres Kuvert, DIN A 5, und die Kladde im selben Format, mit blauem Kunststoff bezogen, die ich mit leichtem Stirnrunzeln und gemäßigter Neugier aufgeschlagen hatte.

Erster Tag (8. Mai)

Heute habe ich den Tag festgelegt: Siebter August, der Geburtstag meines Vaters.
Drei Monate sollten reichen, Konsequenzen zu zie-hen.
Ich weiß nicht genau, was geschehen wird. Die Tage bedeuten mir nichts mehr, oder zuviel.
Das schlimmste ist der Einbruch von Gedanken und Ge-fühlen, die ich nicht für möglich gehalten hätte, die Gegenwart des Bösen ist unabweisbar,
und ich sehe keine andere Möglichkeit. Vielleicht wird das Schreiben mir helfen, alles ein wenig auseinanderzu-halten.
Ich will Klarheit, ich brauche sie gerade für diesen Zustand, in dem ich mich befinde. Die Tatsachen sind unabweisbar, was ich tue, soll es auch sein.
Es wird aussehen wie ein Affekt, aber es ist das Gegenteil eines Affekts. Was kann ich denn wissen? So etwas bereitet sich vor,
aber ich lasse nicht mehr zu, daß es hinter meinem Rücken geschieht.
Es ahnt niemand, daß ich den Job in der Bank verloren habe. Und das Haus. - Ja, aber ist das nicht schon vielen so gegangen, und Schlimmeres?
Was machst Du für ein Aufhebens? - Ich habe es versucht, es ist zwecklos, sich zur Ordnung zu rufen. Alles ist ver-hangen, und viel mehr noch, seit ich wach bin für das, was geschehen ist. Eine unerträgliche Wachheit, sie hat das Gewicht eines Eisbergs, der mich unter Wasser drückt.
Es ist, als habe mich jemand aus einem Schlaf g-weckt, von dem ich dachte, er sei das Leben. Ich kann es niemandem zuschreiben. Wenn es einen Gott gibt...
Die Verzweiflung, nicht mehr man selbst zu sein... aber wann bin ich es gewesen?
Natürlich bin ich für alles verantwortlich, aber ich weigere mich, anzuerkennen, daß ich dieses Chaos ertragen soll. Es scheint eine Kraft zu geben, die mich übersteigt und anzieht wie einen falsch gepolten Magneten: Ich kreise in der aufgeladenen Luft über einem riesigen Feld, das meinen Tod mit einschließt, und noch führt uns die Abstoßung nicht zusammen.
Ich kann nicht zurück, in mir arbeitet die Kälte.
Ich nahm nie an, ich sei besonders stark. Ein geregeltes Leben und die Erfüllung einiger Wünsche hält kaum dazu an, jeden Winkel der eigenen Stärken und Schwächen auszuleuchten.
Im Großen und Ganzen kannte ich meine Begrenzungen. Warum bin ich anfällig geworden für alle möglichen Formen von Fieber, heiß und kalt , träge und überhitzt... die meinen Körper und meinen Verstand mit ihren Karunkeln übersäen?
Ich habe den Entschluß gefaßt, die Entfernung, die mich von allem trennt, zeitlich zu begrenzen. Drei Monate sind sehr lang, am Unerträglichen gemessen. Heute beginne ich mit den Aufzeichnungen.

Ich fühle eine Überforderung, die gleichzeitig aus mir selbst kommt und aus der Welt in mich eindringt. Sie hat in einer Art und Weise von mir Besitz ergriffen, die ich nicht voraussehen konnte, und abhängig von der Kraft, die sie ausübt, setze ich ihr nun meinen Willen entgegen. Ich will lernen, was ich niemals ler-nen wollte...

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