Und was war das jetzt, das mir beim vorigen Text zwischendrin noch eingefallen war?
(Die Gedanken merken, dass ich ihnen Aufmerksamkeit entgegenbringe und drängeln sich am Durchgang zu meinem Bewusstsein – und manchmal quetschen sich halt drei-vier gleichzeitig durch. So schnell komme ich mit dem Schreiben gar nicht nach. Und ich dachte immer, in meinem Leben sei rein gar nichts passiert ...)
Zurück also zum deutschen Jahrmarkt.
Da habe ich den „Mann ohne Unterleib“ kennengelernt. Ich war von Mitgefühl gepackt. So ein junger Mensch, Anfang zwanzig vielleicht, so gutaussehend und dann so ein schreckliches Schicksal!
Aber der Gute hatte außerhalb der Show sehr wohl einen Unterleib. Jetzt braucht ihr die Kinder nicht aus dem Zimmer zu schicken, es ist nichts Anstößiges passiert. Nur dass er mich wohl leiden konnte. Das wiederum fand ich ganz toll – zur Abwechslung mal jemand, der tatsächlich Augen für mich hatte? Der meine Nähe sogar suchte, statt mich (am liebsten) in die Wüste zu schicken?
Das alleine war es doch schon wert, sein Angebot, mit mir spazieren zu gehen, nicht auszuschlagen. Obwohl: Fahrendes Volk?! Gab es etwas, vor dem man sich mehr vorsehen musste?
Wo könnte man denn hingehen, wenn man „schön“ spazieren gehen wollte? Er war ja schließlich ortsfremd und ich nicht so sehr bewandert.
Tja, wohin? Ich war (fast) jeden Tag am Weserdeich. Dort konnte man herrlich für sich sein, mit dem Blick auf das seewärts strebende Schmuddelwasser der Weser, wie es gegen den steinbrockenbewehrten Fuß des Deiches klatschte, stärker, wenn ein Schiff in der Fahrrinne draußen das Wasser in mehr Bewegung versetzte, meine Träume nach Freiheit mit sich nehmend und begleitet von dem schrillen, sehnsuchtsgesteuerten Kreischen der überall vorhandenen Möwen.
Besonders die haben mir späterhin gefehlt – und wie! –, wenn ich an meinen unterschiedlichen Wohnorten wohnte und diese zwar am Wasser, aber nicht an der See lagen. (Sollte ich mal längere Zeit ins Koma fallen: Damit könnt ihr mich entweder zurückholen oder zufrieden weiterdämmern lassen – strandplätscherndes Wasser, von Möwenrufen untermalt, das ist meine Sehnsuchtsmelodie.)
Also lag wohl nichts näher, als ihm diese Möglichkeit vorzuschlagen. Zumal es in der Gegend zu den Tiergrotten (später umbenannt in Zoo am Meer) und in Richtung Columbuskaje (die das letzte war, was die Amerika-Auswanderer von Deutschland sahen und wo heute die Luxusliner anlegen), grüne Inseln auf der Deichkrone gab. Gehölz und Bänke unter dem Laubdach von Bäumen wurden in ihrem limitierten Wegenetz von Buchsbaum- und Ligusterhecken in „Nischen“ unterteilt.
Ja, das klinge gut. Er wolle mich gerne abholen mit seinem Auto (Auto!), dann bräuchten wir nicht zu laufen. Ich weiß es wirklich nicht mehr, ob er nun Leopold hieß, oder ob ich mir das jetzt nachträglich hineininterpretiere, weil er aus Österreich war. Auf alle Fälle redete er „goldig“ und wurde mir dadurch immer sympathischer mit seinem schwarzen Kraushaar und dem dünnen Oberlippenbärtchen.
Wir sind dann auch tatsächlich mit seinem Auto dorthin gefahren. Oh mein Gott, was für eine Krücke! Irgendwas rostbesetztes, großenteils Weißes, welche Marke weiß ich nicht, aber BESTIMMT nicht TÜV-abgenommen. Ich bin trotzdem eingestiegen, und während er mich mit seinem charmanten Singsang beim Fahren zutextete, wusste ich nicht, wo noch ich mich festhalten sollte.
Damals war ein Sicherheitsgurt etwas Exotisches, und besonders in diesem Gefährt. Aber zu dem ganzen Staub und der Zigarettenasche überall im Innenraum kam noch, dass der Beifahrersitz nicht festgeschraubt war. Beim Anfahren knallte mein Sitz gegen die Rückbank und beim noch so sachten Bremsen schlidderte ich scheinbar unaufhaltsam Richtung Windschutzscheibe. Nur, dass der gute Leopold einen heißen Reifen fuhr, während er unablässig seinen schmeichlerischen Dialekt mich einhüllen ließ und ich mich indessen kontinuierlich möglichst verletzungsfrei irgendwo abstützte oder festhielt. Abenteuerlich!
Irgendwann kamen wir an und stiefelten Richtung Deichkronenbewuchs gegenüber den Tiergrotten. Leopold hatte einiges zu schleppen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Flasche Sekt, eine Flasche Orangensaft, zwei Gläser und einen – man glaubt es nicht, zu DER Zeit! – tragbaren Plattenspieler. Na, das war ja spannend!
Nun, den Sekt brauchte er erstmal gar nicht zu öffnen, was ihn sehr betrübte. Und dann legte er eine Single auf. (Singles, liebe Nachfahren, waren kleine flache schwarze runde Scheiben aus Vynil, bei denen auf jeder ihrer beiden Seiten jeweils genau ein Lied, pardon Song oder Auskoppelung gespeichert war, was einen steten Austausch bzw. Wechsel dieses Mediums nötig machte.) Er hatte genau nur diese eine Single dabei und das deshalb, weil er eines der beiden Lieder so schön (oder geeignet?) fand. Leider sind mir auch Titel und Melodie dieses Songs entfallen – oder habe ich beides erfolgreich verdrängt? Denn jetzt wurde es skurril, weshalb es auch nur bei diesem einen Treffen blieb:
Ich erfuhr von ihm, dass er das Fahrgeschäft seiner Eltern übernehmen sollte, wenn er erst einmal verheiratet sei. Und er sei doch jetzt schon 24 Jahre alt. Und wo, bitte, solle er ein nettes Mädchen kennenlernen, wenn man doch maximal 10 Tage an einem Ort sei? Und ICH sei doch so nett. Und er könne mich so gut leiden. Sofort habe er das gemerkt, als er mich gesehen habe.
Zwischendurch wurde von ihm immer wieder der Tonabnehmer des Plattenspielers auf den Anfang der Platte gesetzt. Das Lied sprach auch die ganze Zeit vom Heiraten und Glücklichsein in trauter Zweisamkeit nicht mehr allein – oder ähnlich. Ich schaute immer nur zwischen dem Plattenspieler und Leopolds Gesicht hin und her. Er war wirklich sehr nett und anziehend – eigentlich. Wenn da nicht dieses immer drängender werdende Anliegen seinerseits gewesen wäre.
Jetzt rückte er mir auch etwas näher. Aber eine „Gefahr“ bestand ja nicht, weil diese verschlungenen Wege von Rentnern auf Hundepatrouille gut frequentiert waren und die Buchsbaumhecken nur kniehoch. Nur die Ligusterhecken hinter den Bänken boten etwas Sichtschutz von dort.
Dann wurde er ganz konkret: Ich solle doch jetzt gleich mitkommen, er wolle mich seinen Eltern noch heute vorstellen! Mein Einverständnis einfach voraussetzend, wollte er diesen "Pakt" gleich mit einem Kuss besiegeln. Es kam ihm wohl nicht in den Sinn, dass jemand sein Angebot vielleicht nicht ganz so unwiderstehlich finden könne, ja, es (und damit ihn) ablehnend.
Trotz meines wiederholten "Neins", ob mit ob ohne "Danke", blieb er hartnäckig, ich nehme an, auf seinen österreichischen Charme vertrauend (oder mich für eher weniger intelligent haltend?). Auch der Hinweis darauf, dass ich zarte 15 Jahre zählte (wobei das „zarte“ sich auf die Anzahl der Jahre bezog), konnte ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten. Da blieb mir dann nichts mehr als der Hinweis, dass meine (voll berufstätige) Mutter mich (zu dieser frühen Nachmittagsstunde) bereits ungeduldig zuhause erwarten würde.
Diesem Argument hatte er nichts mehr entgegenzusetzen, Familie ginge unbedingt vor. Er fuhr mich auch an die Ecke zurück, an der er mich aufgegabelt hatte und ließ sich von mir wieder und wieder versichern, dass wir uns „morgen“ erneut treffen würden, ganz bestimmt!
Ich bin vorsichtshalber die nächsten zwei Jahre nicht mehr auf den Jahrmarkt gegangen, selbst unter Verzicht auf die leckeren Eise ...
noé/2014
Kommentare
Tja....
oder auch: "Tja"
nein, ich möchte am liebsten sagen: "O"
... wer hindert dich ...? ;o))
Wieder sehr lebendig und spannend erzählt. Kleine Flirtgeschichte. Toll. Und - beeindruckend - wie dezent sich der junge Mann verhalten hat. Denkbar, dass es heute anders laufen würde/könnte...
LG Monika
Nun, es liegt ja auch eine geraume Zeit von Jahren zrück ...
An diesem Text vom Jahrmarktsmann
Ist zweifelsohne ALLES dran!
LG Axel
... harharr ...!
Das war ja 'ne tolle Geschichte! Der arme Junge, erst keinen Unterleib, dann kein Mädchen. In Deinem ersten Absatz konnte ich mich gute selbst erkennen.
Liebe Grüße, Susanna
Du meinst das mit dem "Schlangestehen" der Gedanken?
Ja, schade, dass die Zeit meist nicht reicht.
Und dann das alles auseinander zu dröseln ...