Max war mein Lieblingsvogel. So sehnsuchtsvoll klang sein Ruf, so melancholisch sein Gesang. Der kompakte Körperbau mit dem kräftigen schwarzen Schnabel, die schwarze Haube und die intensiv-rot gefärbte Brust verkörperte alle Schönheit, die ich mir für die Vogelwelt vorstellen konnte.
Wenn er seine Moll-Töne hören ließ, zerfloss mein Herz zu Bernsteinfäden und ich wäre gerne auf dem Klang in die schallschluckenden Weiten eines tief verschneiten, lichten Waldes in Finnland oder Russland getragen worden, wo man vielleicht mal einen Wolf sieht, aber wochenlang keinen einzigen Menschen und wo die Stille so laut ist, dass der untröstliche Gimpel- oder Dompfaff-Ruf wie ein Streicheln wirkt.
Max fraß so gerne die dicken runden Hanfkörner, dass ich dachte, ich täte ihm Gutes, wenn ich sie ihm extra aus dem Vogelfutter raussuchte, so als Leckerli. Was ein Kind halt versteht. Wohl nicht allzu viel ...
Max hüpfte sehnsüchtig klagend in seinem Käfig an der Wand in Omas Zimmer. Ich verstand damals nicht, dass es ein Gefängnis für ihn war, ich dachte, er habe es gut bei uns. Wo ich ihn doch so verwöhnte mit den Extra-Portionen Hanfkörnern.
Ich machte mir große Schuldgefühle, als er erblindete. Zuerst färbten sich seine schwarzen Augen feuerrot, dann war er blind. Er konnte nur noch die altvertrauten Stangensprünge machen, weil er jahrelang eingeübt hatte, in welcher Höhe welche Stange hing. Wenn daran etwas geändert wurde, war er hilflos.
Er hat auch nie unsere Nähe gesucht. Rückblickend wirkt es auf mich, als wäre seine Existenz eine einzige Anklage gewesen. Wie bei Rilkes Panther hinter den tausend Gitterstäben.
Ganz anders Hansi.
Hansi, der quirlige Stieglitz, der weiß-braun-schwarz-gelbe Distelfink mit dem rot-gefärbten Gesichtchen und dem keck-spitzen Schnabel, war der Liebling Oma Annis und meines Vaters. Ihm zuliebe überhaupt wurden die Vögel damals angeschafft, vorher hatten wir keine Haustiere.
Mein Vater kannte wohl besonders Stieglitze und Dompfaffen aus seiner schlesisch-dörflichen Kindheit. Außerdem hatte er eine tiefinnerliche Liebe zur Natur, mehr noch jedenfalls als zur Marine. Und nachdem er nicht mehr zur See fuhr (Freiheit und Weite), sondern "nur noch" in der Marineschule unterrichtete, wurde ihm halt ein bisschen Natur ins Haus geholt - zusätzlich zu dem kleinen Garten, zu dem er den vernachlässigten Hinterhof mutieren ließ.
Der Stieglitz-Käfig besetzte die andere Wandseite neben der Durchgangstür zum Wohnzimmer. Auch, als es schon der vierte Hansi war: alle waren irgendwie auf Oma Anni fixiert. Für mich hätte er ruhig fehlen können, ich liebte "meinen" Max, mehr brauchte ich nicht.
Es kann natürlich sein, dass diese Zutraulichkeit der Hansis einfach ein genialer Trick war, entkommen zu können. Denn Oma Anni freute sich immer, wenn der jeweilige Hansi sie anflog und sich auf ihre Schulter setzte. Alle Hansis bekamen Freiflüge in Omas und dem Wohnzimmer, denn sie waren ja so zutraulich, dass sie immer wieder Omas Schulter anflogen und auch dort sitzen blieben, wenn sie den "Trainingsparcour" mal verließ. Zum Beispiel in die Küche ging, gegenüber ihrem Zimmer. Dort säuberte sie einmal wöchentlich die Käfige sehr akribisch mit der "Vogel"-bürste, einer Spülbürste nur für die Käfige, am Spülstein in der Küche unter laufendem Wasser mit Ata oder Vim. Danach wurde Zeitungspapier in Form geschnitten und in mehreren Lagen auf dem Käfigboden ausgelegt, mit Vogelsand bestreut, die abgewaschenen Holz-Stangen wieder eingesetzt, die Sepiaschale auf der Innenseite des Käfigs wieder angebracht, damit der Vogel seinen Schnabel wetzen konnte und an Kalk kam, und während Hansi den frisch renovierten Käfig wieder freiwillig bezog, reinigte sie noch das Badehäuschen, füllte frisches Wasser nach (das allerdings machte sie täglich), hängte es wieder vor die Käfigöffnung - was für die jeweiligen Hansis jedes Mal das Signal war, sofort alles vollzuspritzen, da sie umgehend ein flügelflatternes Bad nehmen mussten - und trug das glänzende Ergebnis ihrer großmütterlichen Vogelfürsorge wieder an den angestammten Platz, die Wand zwischen Fenster und Schiebetür zum Wohnzimmer.
Aber nicht immer war der jeweils aktuelle Hansi wirklich willig, wieder in den Käfig zurückzugehen. Oma, im Vertrauen darauf, dass immer alles wie immer abliefe, gewährte Hansi Freiflug während der Käfigsäuberungsaktion. Und manchmal war ihr Vertrauen blind geworden - denn sie vergaß die auf Kipp gestellten Oberlichter der hohen Fenster. Und ehe man es sich versah, war Hansi Nr. 1, 2 oder 3 - schwupps und flügelschwirr - auf diesem Weg entkommen.
Natürlich nutzte alles Rufen auf dem Balkon und mit dem Käfig "locken" und den Käfig über Nacht draußen stehen lassen - vielleicht findet er ja wieder das vertraute Heim - gar nichts. Ob sich die geflüchteten ehemaligen Käfigvögel ihrer Freiheit freuen konnten und wie lange wohl, oder ob sie den durch die Hinterhöfe und rückwärtigen Gärten streunenden Katzen zum Opfer fielen - wer kann es sagen?
Ein einziger Distelfink ist tatsächlich wieder in den aufgestellten Käfig zurückgekommen, aber es dauerte nicht lange, da tauschte er die Vollpension erneut auf bekanntem Wege gegen den Duft der Freiheit.
Diesen Fluchtweg durch vorher langfristig aufgebautes Vertrauen traten auch andere Delinquenten auf Hafturlaub an: zwei oder drei Kanarienvögel, die ersatzweise in Hansis leer gewordenen Käfig "verlegt" worden waren.
Ob jetzt das nun ein Trick von Oma war, um wieder einen neuen Stieglitz zu bekommen - will ich mal nicht hoffen ...
Alles, was NICHT Hansi war, musste unter das Sieb.
Oma fing mit sicherem Griff das jeweils fluchtbereite Vogeltier im Käfig ein, direkt neben dem Küchenspülstein auf der Anrichte, meist bei geschlossenen Oberlichtern, aber ab und zu halt eben nicht. Neben dem Käfig hatte sie ein großes Küchensieb auf gefaltetem Zeitungspapier parat gelegt, hängte das Badehäuschen ab, griff sich den Vogel aus dem Käfig, meist ohne große Jagerei, lupfte mit der anderen Hand das Sieb am Griff, entließ den Gefiederten in seine nun extrem begrenzte Freiheit und hatte alle Zeit der Welt, sich der Meditationsarbeit des Käfigsäuberns hinzugeben.
Und wenn sie nicht schon in betrügerischer Absicht sowieso gerade Freiflug hatten, waren eben dies die beiden kritischen Momente - der Gefangenentransport unter das Sieb oder aus dem Sieb wieder hervor – in denen es den drei Original-Hansis (Distelfinken) oder allen Pseudo-Hansis (Kanarienvögel) gelang zu entwischen.
Up, up and away.
noé/2015
Kommentare
Kaum mit der Feder, freilich schön verfasst!
Die Worte mit Flügeln - der Inhalt passt...
LG Axel