Wind - Page 5

Bild von Tanja Grün
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würde auch sie sich an ihn erinnern, die Arme neben ihren Kopf legt. Dann erinnert sie sich aber wohl auch an ihr Bedürfnis, andere zu verwöhnen und lässt mich die Rolle des Katers übernehmen. So wünscht sie es sich, sage ich mir. Margot ist jetzt glücklich. Und während ihr Körper über meinen gleitet, meine ich, dass Nina bei mir ist. Ich umarme Margot und spreche dabei sogar, wie sonst noch nie, laut ihren Namen aus. Denke aber: Nina.
Dann liege ich einen Moment doch ganz für mich allein neben Margot auf dem Bett, meine Haut ist feucht, der Wind hat das Haus noch nicht abgekühlt. Ich bin noch nicht müde, mein Körper ist noch in Aufruhr. Und er hat Durst, merke ich. Lange ringe ich mit mir, dann beschließe ich doch, noch einmal aufzustehen und ins Bad zu gehen. Nina hat es uns gezeigt, es liegt am Ende des Flurs. Ich brauche Wasser.
Weil Margot inzwischen eingeschlafen ist, schleiche ich sehr leise barfuß bis zur Zimmertür und öffne sie sehr vorsichtig. Und trotzdem entsteht schon im nächsten Moment, gerade, als ich mich durch den Türspalt quetsche, Lärm. Ein Schrei, ein kurzes Kreischen und obwohl sie völlig verändert klingt, erkenne ich sofort Ninas Stimme. Es ist dunkel im Flur, ich finde den Schalter für die Flurlampe nicht und Nina scheint ihn nicht benutzen zu wollen. Aber von der Treppe kommt doch ein bisschen Licht zu uns herauf. Meine Augen stellen sich darauf ein und ich kann Nina jetzt erkennen. Sie steht in der Ecke hinter der Tür und muss uns belauscht haben. Ein Gespenst in einem weißen Nachthemd, eine lebende Leiche. Einen kurzen Moment lang sehe ich sie so, ein wenig zusammengekauert in der Ecke, dann läuft sie durch den Flur davon. Eine Katze, die vor mir Reißaus nimmt. Ich bleibe stehen, höre schnelle Schritte auf der Treppe, Schritte im Erdgeschoss und die Haustür, die aufgerissen wird, ohne wieder ins Schloss zu fallen. Dann klingt das Mobile. Die Terrassentür muss noch offen sein oder ein Fenster. Es klingt immer lauter. Trotzdem höre ich auch, wie draußen eine Autotür knallt, ein Motor anspringt und Räder auf dem Kies durchdrehen. Ich laufe die Treppe hinunter und überzeuge mich: Mein Auto ist verschwunden. Und während ich noch im offenen Hauseingang stehe und auf den Kies schaue, wächst hinter mir das Klingen des Mobiles zu einem Crescendo an, bis es nach einem lauten Schlag verstummt, weil es abgestürzt ist.
Zuerst schließe ich die Haustür, dann die Terrassentür. Das Mobile hat seinen Sturz nicht ganz unversehrt überstanden, stelle ich fest. Ein paar Perlmuttscheiben sind beim Aufprall aus ihrer Aufhängung gedrückt worden. Es dauert eine Weile, bis ich sie wieder eingehängt habe, mir einen Stuhl unter den Haken ziehe und alles wieder an die Decke hänge. Dann warte ich. Auf dem Sofa zwischen den lila Kissen, am leeren Esstisch, am Fenster, das hinaus auf den gekiesten Hof zeigt. Nina hat meine Jacke mitgenommen, sehe ich irgendwann. Meine Jacke mit dem Schlüssel in der Tasche, sie war sehr aufmerksam. Vielleicht trägt sie jetzt die Jacke über dem weißen Nachthemd.
Als es anfängt, hell zu werden, gehe ich nach oben zu Margot. Warum sollte ich ihr erzählen, was passiert ist? Leise lege ich mich neben sie und ziehe mir die Decke über den Kopf, um noch eine Weile zu schlafen.
Ich werde wieder wach, als sie ihren Oberkörper auf meinen Rücken legt, mich umarmt und ein bisschen schaukelt. Steh auf, es ist schon neun, ruft sie und sagt dann, als ich mich zu ihr umdrehe, mit besorgter Stimme: Nina ist weg und dein Auto auch.
Ich drehe mich wieder zur Seite. Murmele vor mich hin: Vielleicht ist sie ja zum Bäcker gefahren.
Mit deinem Auto? Das würde sie nie tun, einfach so, ruft Margot wieder. Nina fährt Fahrrad.
Ich gähne harmlos in mein Kissen und bleibe liegen, während Margot aufgeregt die Treppe hinunterläuft. Ich höre sie den Tisch decken, vielleicht glaubt sie ja an die Version mit der Fahrt zum Bäcker. Ich warte noch ein paar Minuten, stehe dann auf, ziehe mich an und gehe hinunter.
Sie hat nicht mal ihr Handy mitgenommen, sagt Margot, als sie mich auf der untersten Treppenstufe sieht. Und läuft dann gleich zum Fenster, das auf den Hof hinauszeigt, wo ich schon in der Nacht gestanden habe.
Wir frühstücken schließlich. Margot streicht Butter und Marmelalde, isst und trinkt, während sie immer wieder auf die Uhr schaut. Dabei sagt sie öfter: Das kann doch nicht sein. Sonst nichts. Erst als wir den Tisch aufräumen und alles in die Küche bringen, fragt sie: War noch was gestern Abend? Habt ihr euch vielleicht gestritten?
Das hätte ich dir doch erzählt, sage ich. Und sie: Um elf rufe ich die Polizei an.
Das dauert mir zu lange, denke ich, behalte es aber für mich. Margot kennt mich nicht unruhig, also soll sie nichts von meiner Unruhe bemerken. Sie sorgt sich um Nina, warum sollte sie gerade jetzt noch auf eine andere Sorge kommen.
Mir ist so heiß, dass ich schon wieder duschen möchte. Gerade stehe ich auf, um nach oben zu gehen, da klingelt das Telefon. Ich bin schneller als Margot und habe zuerst den Hörer in der Hand.
Nina ist im Krankenhaus aufgewacht, kann jetzt also sprechen, ihren Namen und ihre Adresse angeben. Deshalb der Anruf. Sie hatte ja nur das Nachthemd an und meine Jacke. Vier Knochenbrüche: Schlüsselbein, Unterschenkel, Arm und Handgelenk. Sonst nichts Gravierendes. Eine Gehirnerschütterung, ein Schleudertrauma. Man hat sie gefunden, als es hell wurde. In meiner Jacke hat auch meine Geldbörse gesteckt und darin mein Ausweis, aber zu Hause bin ich ja gerade nicht erreichbar. Sie können Ihre Freundin jetzt besuchen.
Während Margot ein Taxi ruft, gehe ich endlich duschen. Sehr heiß, das muss sein, damit Margot nicht merkt, wie glücklich ich bin.
Später führt Margot mich schnell durch die Krankenhausgänge und öffnet schließlich vor mir die Tür mit der Nummer, die man uns an der Pforte gesagt hat. Fast alles an Nina ist weiß verbunden, das eingegipste Bein nach oben gelagert. Sie kann sich kaum bewegen, dreht aber doch den Kopf auf der Halskrause steif zu mir herüber. Die grauen Wände starren mich groß an.
Du brauchst ein neues Auto, sagt sie. Ich kann dir das bezahlen.
Ich sage: Alles kein Problem. Es gibt viel Wichtigeres.
Der Blick durch das Grau wird wütend und Nina dreht ihren Kopf, so schwer ihr das fällt, zu Margot hinüber, die auf der anderen Seite des Betts steht. Margot nimmt Ninas unverletzte Hand und zeigt in ihrem Gesicht viel Bewegung. Sie will jetzt genau wissen, was los war, wie alles passiert ist, warum Nina auf eine solche Idee kommen konnte. Und weil Nina ihr kaum antwortet, schickt sie mich aus dem Zimmer.
Also gehe ich nach unten in die große Eingangshalle und hole mir am Kiosk eine Zeitung. Setze mich in einen der Sessel und lese. Bis Margot vor mir steht. Ihr Gesicht ist in größerer Bewegung, als ich das jemals an ihr gesehen habe, das Kastanienbraun sieht ein wenig zerzaust aus. Als sie sich äußert, wird schnell klar: Ich gehöre jetzt zu den Männern, die sie enttäuscht haben.
Die arme Nina, sage ich da. Sie muss sehr einsam sein. Und erzähle, wie ich sie hinter unserer Zimmertür entdeckt habe. Alles andere erkläre ich so: Vielleicht war es der Schock nach dem Unfall, vielleicht die Ohnmacht. Irgendeine Phantasie oder ein Traum. Ein Hang zur Aufdringlichkeit.
Margots Gesicht entspannt sich. Sie beugt sich zu mir herunter und küsst mich auf den Mund. Als sie sich wieder aufrichtet, lächelt sie.
Im Mietwagen fahren wir zurück zu Ninas Haus. Wir gießen den Garten, weil Gewitter und Regen ausgeblieben sind. Dann sitze ich auf der Terrasse und will eigentlich nirgends anders mehr sitzen.
Margot organisiert aber schon unsere Abwesenheit. Ich höre, wie sie telefoniert, immer wieder neu von Ninas Unfall erzählt und freundliche Bitten ausspricht. Dann ihre erfreuten Reaktionen, weil sich wohl alles irgendwie findet. Jemand wird die Katze füttern, jemand wird Nina im Krankenhaus besuchen und jemand wird ihr helfen, wenn sie wieder entlassen ist. Wir können nach Hause fahren, sagt Margot, als sie zurück zu mir auf die Terrasse kommt.
Jetzt nimmt sie aber meine Hand und zieht mich ins Haus, durch den Flur im Erdgeschoss in Ninas Schlafzimmer. Genau dort will sie mit mir schlafen. Also sinke ich in Kissen, die nach Nina riechen, und alles nimmt seinen Lauf, ganz so, wie Margot sich das wünscht. Ich weiß nicht, was sie denkt, während ihr Körper sich mit meinem beschäftigt, aber in meinem Kopf klingt wieder unablässig immer nur ein Name. Als gäbe es etwas zu bejubeln.
Als wir am nächsten Morgen wieder beim Frühstück sitzen, sagt Margot: Ich glaube, es ist besser, wenn wir den Zug nehmen. Und so bringen wir, als alles aufgeräumt ist und unsere Taschen gepackt sind, den Mietwagen zurück und fahren mit dem Taxi zum nächsten Bahnhof. Erst als ich hinter dem Fahrer auf der Rückbank sitze, fällt mir auf, dass der Himmel am Horizont über den Wäldchen bleischwarz geworden ist, wir fahren direkt auf die dunklen Wolken zu. Und kaum habe ich das erkannt, fangen auch schon die Bäume an, sich demütig unter Sturmböen zu beugen. Als wir am Bahnhof ankommen, hat es angefangen zu regnen. So stark, dass die Tropfen auf der Straße wie Gummibälle springen und die Scheibenwischer die Ströme auf der Windschutzscheibe kaum mehr unterbrechen können. Der Fahrer verabschiedet uns mit einem mitleidigen Blick, als wir am Taxistand aussteigen.
Im Abteil kommen wir nass an. Margot muss mit Blick in Fahrtrichtung sitzen, damit ihr nicht schlecht wird. Mir ist das recht so. Ich schaue, als der Zug abfährt, hinaus und sehe, wie die Landschaft vor mir flieht, aufgewühlt vom Sturm und überschüttet vom Regen. Margot, mir gegenüber, kommt auch ins Bild. Sie sieht ein wenig blass aus und hat das Kastanienbraun zu einem Zopf zusammengebunden. Kaum sind wir richtig in Fahrt, holt sie aus ihrer Tasche eine Tüte mit Aprikosen heraus, Ninas Obstschale musste geleert werden. Möchtest du welche?, fragt sie. Und als ich nicke, fragt sie weiter: harte oder weiche? Es gibt doch nur weiche Aprikosen, sage ich, obwohl das nicht ganz stimmt. Sie zuckt mit den Schultern und hält mir die Tüte hin. Ich taste vorsichtig und greife zu. Margot beobachtet mich, bis ich fertig gegessen habe. Dann sagt sie: Ich werde Nina nicht mehr besuchen, sie nicht mehr anrufen und ihr auch nicht mehr schreiben. Und du?
Ich weiß noch nicht, sage ich, während ich gerade nach einem Blitz auf den Donner warte. Bei diesem Wetter kann ich gar nichts entscheiden.

Veröffentlicht / Quelle: 
Tanja Grün, Wind, Pangai Misi Verlag ISBN 978-3-989-10-6

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