Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 151

Bild von Alf Glocker
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151. Schritt

Wenn ich mich einmal ganz bewusst ansehe, dann fährt mir der Schrecken in alle Glieder – und wenn ich sage „in alle“, dann meine ich auch in alle! Woraus bestehe ich eigentlich?

Herauszufinden versucht habe ich das kürzlich im Supermarkt. Ich geriet in ein Inferno! Halluzinativ suchten mich Bilder heim: ich sah das Blut! Millionenfach standen meinem tatsächlich auftauchenden Appetit die Schreie gegenüber – und ich zweifelte an meinem Recht.

Dies betraf zunächst nur das Fleisch. Dann spürte ich das frische Wasser um meine Kiemen. Aber alles hat einen Haken! Der verwüstete Meeresboden fiel mir zusätzlich ein – und ich zweifelte an meiner Lust.

Das Gemüse löste in mir Stürme mehrerer Empörungen aus! Wofür war es gewachsen? Und woraus hatte man es „erzeugt“? Sein Dasein spielte keine Rolle, außer der, daß die Saatguthersteller Mafiosi sind, deren Gewissen von einer Briefmarke zugedeckt werden kann.

Folglich durfte ich auch vor dem Brotstand nicht Halt machen und mitnehmen was mir nicht zustand, nicht gefiel! Wieder draußen angekommen glotzte ich zweifelnd auf mein Auto. Sollte ich wirklich damit über die Straßen des Leidens fahren?

Straßen zerschneiden die Welt! Die Welt der Hasen, der Igel, der Schnecken, der, der, der… Ist das denn nur und ausschließlich unsere Welt? Die „praktischen“ Belange unserer Welt werden von den unterschiedlichsten Mafia-Organisationen festgelegt.

Sie alle arbeiten für ihre Interessen – gegen die Interessen der Welt, auch gegen die Interessen einer Welt die uns nützt. Die Baumafia arbeitet Hand in Hand mit der Verkehrsmafia, die wiederum eng verbunden ist mit der Regierungsmafia. Keine dieser Gruppen macht sich ernstlich Gedanken um das sogenannte „Kleine“. Ja, nicht einmal um das „Große Ganze“.

Einzig beseelt ist das Seelenlose! Die Automatismen werfen hohe Gewinne ab. Die Massen verbreiten sich, während die Massen sterben. Ein ewiger Wechsel. Nur Menschen betrifft er nicht! Die übergeben sich am Straßenrand, im Stillen Kämmerlein, vor dem Fernseher. Sollten sie sich denn auch im Bett übergeben? Ich zweifle daran, zu Recht geboren worden zu sein!

Was ich auch anstelle – ich bin ein todbringender Faktor, in allem was mir einfällt (außer ich führe es nicht aus). Nur in einem könnte ich Leben bringen: im Akt der sexuellen Vereinigung. Doch das belastet mein Gewissen schwer! Welche Art Mörder würde ich zeugen? Und welche Bedeutung hätte das für sein Leben?

Wenn ich jetzt aber aufhöre Mafia-Organisationen zu unterstützen…? Und wie sollte das aussehen? Ich esse nichts mehr? Ich setze keinen Fuß mehr vor den anderen, denn beim ersten Schritt trete ich auf ein Lebewesen. Das kann ich gar nicht verhindern!

Wenn es nicht in der freien Natur geschieht, dann tue ich das quasi symbolisch, denn selbst ein hermetisch abgeriegeltes Gebäude wurde auf den Leichen von Kreaturen errichtet, die das Gebiet vorher bewohnten. Immer werden die Ureinwohner verdrängt, besiegt, ermordet!

Also beschließe ich zu schweben! Ich schwebe nackt, meditierend in der Luft! Das Essen habe ich mir abgewöhnt – ein Heiliger ist aus mir geworden. Ich habe keine Bedürfnisse mehr. Im Schweben fällt mir ein: ich atme ja noch! Auch das ist ein schweres Vergehen, da der Sauerstoff insgesamt immer weniger wird und ihn womöglich noch ein anderer brauchen könnte.

Kurz bevor ich sterbe, mich in das Wohlgefallen der anderen Erdbewohner auflöse, die alle noch leben wollen, spricht eine Stimme zu mir: „Was machst du denn, du Drecksack? Glaubst du wirklich hier ohne Schuld existieren zu können? Die Schöpfung ist und bleibt eine Mördergrube!“

Suche doch lieber nach Möglichkeit, wie man pfleglich mit der Welt umgehen kann, solange sie noch existiert! Das fällt mir jetzt selber ein. Gleichzeitig bemerke ich, daß ich vom Wahnsinn umgeben bin und er darüber hinaus auch mich selbst erfüllt. Ich kann nicht aus meiner Haut! Ich kann kein Fabeltier sein das alles im Griff hat und Wunder der Vernunft bewirkt.

Kurz nach dieser Entdeckung kommen mir die Tränen. Ich würde mich am liebsten in einer dunklen Ecke verstecken, damit ich mich selbst nicht mehr finden und zur Verantwortung ziehen kann. Ich fange an, Leute zu bewundern, die unsensibel genug sind sich einfach in ihr Schicksal zu fügen – dumm und widerspruchslos. Meist haben sie ja auch noch die Frechheit, alles als „gut“ zu bezeichnen.

Als ich weiter in mich hinein höre, kann ich, ganz unten, in den tiefsten Tiefen der Zeit die Geräusche der riesigen Zentrifuge lokalisieren, die alles in sich hinein zieht. Das Blut gefriert mir in den Adern, denn ich habe das Schicksal bei der Arbeit gesehen. Da kann ich mich nur noch ab- und mir selbst zuwenden. Was kann ich aus mir herausholen? Mit dieser Frage beschäftigt sich weinend mein Geist!

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Kommentare

29. Mai 2015

Dein Geist, er weint nicht nur allein:
DER Weingeist muss ein Dichter sein!

LG Axel

31. Mai 2015

da möcht ich wetten...

LG Alf