Die Tunnelrutsche

Bild von Teacherman
Bibliothek

Plitsch.
Platsch.
Plitsch.
Platsch.

Markus Arndt schaute auf die Pfütze. Unablässig tropfte es auf die blauen Kachelfliesen unterhalb des Stuhls. Der mittelalte Mann mit dem nassen Haar saß dort fast nackt und sah aus wie eine frisch gerupfte Gans. Piloerektion, dachte Hauptkommissar Arndt. Er hatte vor Ewigkeiten mal Medizin studiert. Vier lange Semester. Das Wort war ihm im Gedächtnis geblieben.
„Sehen Sie nicht, dass der Mann friert“, meinte Arndt zum Kriminalobermeister neben ihm. „Besorgen Sie ihm einen Bademantel.“
Der Polizist verließ missmutig den Raum. Markus Arndt zog den zweiten Stuhl zu sich heran, setzte sich gemächlich hin und legte seinen rechten Arm auf dem Tisch vor ihm ab. Obwohl er dick eingepackt war und seine Jacke noch anhatte, fröstelte es ihn.
„Dann erzählen Sie mir bitte was passiert ist, Herr Görkes.“
Herr Görkes zitterte. Er hatte seine Arme vor der nackten Brust verschränkt, seine Lippen waren blau angelaufen. Die Haut war blass, das Gesicht eingefallen.
„Sie müssen ihn finden“, sagte Herr Görkes mit zittriger Stimme. „Sie müssen ihn finden. Ich will meinen Sohn. Ich will nur meinen Sohn.“

*

Draußen, im Eingangsbereich, waren ungefähr hundertfünfzig Personen. Väter, Mütter, Kinder. Nachlässig angezogen standen sie da, mit vollen Taschen und nassen Haaren. Es war laut.
„Sauerei“, schrie ein beleibter Mann. „Wir wollen nach Hause. Lassen Sie uns endlich gehen!“
Obermeister Seibert stand hinter dem Kordon aus Polizisten, der die Gäste des Schwimmbads vom Gehen abhielt. Er unterhielt sich mit seinem Kollegen Martin Schülke.
„Lange können wir die nicht mehr hinhalten. Wir haben die Personalien, das muss reichen. Geh mal zum KHK, und sag ihm, dass es hier unruhig wird.“
„Mach du doch!“, gab Schülke zurück.
Seibert schaute ihn einen Moment lang an, dann setzte er sich wortlos in Bewegung.

*

Frau Görkes saß in einer der großen Familienumkleiden. Sie hatte sich schon umgezogen, Silke Brenner hatte ihr dabei geholfen. Die Polizeimeisteranwärterin saß direkt neben der schluchzenden Frau und strich ihr immer wieder behutsam über den Rücken.
„Diese blöde Tunnelrutsche“, sagte Frau Görkes. „Diese, blöde, gottverdammte Tunnelrutsche.“

*

„Herr Görkes“, versuchte Markus Arndt es erneut. „Herr Görkes, wann genau haben Sie das Verschwinden ihres Sohnes bemerkt?“
Herr Görkes schwieg.
„Herr Görkes, so kommen wir nicht weiter. Sie müssen mir schon sagen, was passiert ist, sonst können wir Ihnen nicht helfen. Wann und wie ist ihr Sohn verschwunden? Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“
Herr Görkes schaute hoch. Sein trüber, wässriger Blick ließ ihn wie einen verheulten Jungen aussehen.
„An der Treppe“, wimmerte er schließlich.
„Gut. An der Treppe“, sagte Markus Arndt, froh über den Fortschritt. „An welcher Treppe?“
„Na, an der Treppe. Die Treppe, die zur Tunnelrutsche führt. Zu der blauen.“
In dem Moment kam der KOM wieder zur Tür herein, mit einem rosafarbenen Bademantel aus Frottee in der Hand. Hinter ihm: Obermeister Seibert.
„Was ist mit den Familien?“, fragte Seibert während der KOM Herrn Görkes in den Bademantel half. „Können wir die gehen lassen? Wir haben die Personalien aufgenommen. Die werden langsam unruhig.“
„Wie weit sind wir mit der Durchsuchung des Schwimmbads?“
„Keine Ahnung.“
„Dann gehen Sie zur Suchmannschaft. Die blaue Tunnelrutsche, die sollen bei der blauen Tunnelrutsche suchen. Bevor die Durchsuchung nicht abgeschlossen ist, geht keiner nach Hause.“
„Aye, aye, Captain.“

*

„Wie ist es denn passiert, Frau Görkes? Möchten Sie mir das vielleicht erzählen?“
Frau Görkes, immer noch in sich zusammen gesunken, richtete sich ein wenig auf. Sie schaute Silke Brenner ins Gesicht und es schien, als löste das junge Gesicht der blonden Polizistin eine Blockade in ihr.
„Erik“, begann sie zögerlich. „Mein Mann, er ... , es war so eine saudumme Idee.“
„Was für eine Idee denn?“
Frau Görkes gab sich einen Ruck.
„Da war dieser andere Mann, mit seinem Kind. Ein Junge, vielleicht zwei Jahre alt. Also noch ganz klein. Und mein Mann hat gesehen, wie der andere Mann seinen Sohn einfach so in die Tunnelrutsche gesetzt und dann losgelassen hat. Dann ist der Junge in der Tunnelrutsche verschwunden und kam am anderen Ende wieder raus. Die Mutter hat ihn da unten aufgefangen, man konnte das von oben sehen.“
„Ja, und dann?“
„Dann wollte er das auch machen, mit Jonas.“
„Mit Ihrem Sohn.“
Frau Görkes nickte.
„Ich hab ihm gesagt, dass das zu gefährlich ist. Ich hab auf das Schild gezeigt. Da stand ganz klar, Kinder unter sechs Jahren nur mit Erwachsenen.“
„Und wie hat ihr Mann reagiert?“
„Er hat gemeint, ich solle mich nicht so anstellen. Ich würde das Kind bloß verzärteln, hat er gesagt. Und dass doch gar nichts passieren könne.“
„Und da haben Sie sich überreden lassen?“
Frau Görkes nickte und senkte den Kopf.
„Ich bin hochgegangen und hab ihn in die Tunnelrutsche gesetzt. Dann hab ich ihn losgelassen ...“
Sie schluchzte laut.

*

„Wir haben das ganze Schwimmbad abgesucht. Da ist nichts. Nicht im Wasser und auch nicht außerhalb. Auch den Außenbereich haben wir abgesucht. Hier ist kein Kind.“
„Der KHK erzählte was von der blauen Tunnelrutsche. Haben Sie die durchsucht?“
„Also, wir sind jetzt nicht in die Tunnelrutsche geklettert, wenn Sie das meinen.“
Obermeister Seibert schaute den ihm untergebenen Polizisten abschätzend an.
Als er verstand, stöhnte er laut auf.
„Ist nicht Ihr Ernst, oder?“
„Doch“, meinte Seibert lapidar.

*

„Ich will meinen Sohn. Ich will nur meinen Sohn.“
„Das sagten Sie bereits, Herr Görkes. Also, ihre Frau ist die Treppe hoch zur Tunnelrutsche, mit Jonas. Was haben Sie dann gemacht?“
„Ich bin runter ins Becken, da wo die Tunnelrutsche aufhört. Da, wo die rauskommen.“
„Und dann?“
„Nichts.“
„Wie, nichts?“
„Na, nichts. Er kam nicht raus. Irgendwann kam meine Frau zu mir und fragte mich, wo denn Jonas sei.“
„Also, ihre Frau hat ihren Sohn oben in die Tunnelrutsche gesetzt und losgelassen?“
„Das hat Sie jedenfalls behauptet.“

*

„Du bist also Rechtsausleger. Interessant.“
„Haha, sehr witzig, ich lach mich tot.“
Der Polizist hatte seine Uniform abgelegt und sich bis auf die knappe Unterhose ausgezogen. Ein paar seiner Kollegen hatten sich das Lachen und die Sprüche nicht verkneifen können.
„So, genug gelacht“, meinte Obermeister Seibert trocken. „An die Arbeit.“
Der junge Polizist stieg die Treppe hoch. Als er oben am Einstiegsloch der Tunnelrutsche angelangt war, zögerte er. Der Bademeister hatte das Wasser zwar abgestellt, aber es sah immer noch sehr rutschig und glitschig aus. Der junge Mann verkeilte sich mit seinen vier Extremitäten in der Röhre und bewegte sich dann langsam vorwärts. Stück für Stück verschwand er tiefer und tiefer im Innern der Röhre.

*

„Wieso haben Sie dem Bademeister dann gesagt, dass ihr Kind entführt worden sei?“
„Das habe ich nicht. Ich habe gesagt, mein Sohn ist verschwunden.“
„Aha!“
Hauptkommissar Arndt ärgerte sich. Also keine Entführung. Der Bademeister hatte Quatsch erzählt. Aber wo war das Kind jetzt?

*

An einer Stelle des Tunnels war es so dunkel, dass der junge Polizist nichts mehr sehen konnte. Er wünschte, er hätte eine Stirnlampe dabei. Er tastete sich langsam vorwärts, immer in der völlig absurden Erwartung, menschliches Fleisch zu ertasten. Als könnte ein kleines Kind sich in so einer großen Röhre verkeilen. Lächerlich.

*

„Ich hatte mir immer so sehr ein Kind gewünscht. Und als ich dann den Test gemacht habe ... wir waren so glücklich ... alles war so schön. Ein paar Monate später hatte ich dann einen dicken Bauch. Ich bin überall damit rumgelaufen. Ich war so stolz. Und die Leute waren auf einmal so nett. Alle ließen mich vorbei, standen auf, damit ich sitzen konnte. Strahlten mich an ...“
Silke Brenner streichelte Frau Görkes wieder über den Rücken.
„Geben Sie die Hoffnung nicht auf. Vielleicht finden wir ihn noch.“
"Nein, er ist weg", sagte Frau Görkes bestimmt. "Er ist schon lange weg."

*

„Herr Seibert!?“
„Jetzt nicht“, gab der Kriminalobermeister barsch zurück. „Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin.“
Seibert stand am anderen Ende der Tunnelrutsche. Er sah, wie der junge Polizist aus dem Dunkel der Rutsche geklettert kam. Nach und nach kam er in den helleren Bereich. Als er wieder ganz zu erkennen war, war da in seinen Händen: nichts.
„Und?!“, fragte Seibert, als der Mann im kniehohen Wasserbecken stand.
„Nichts“, erwiderte dieser lapidar.
„Herr Seibert!?“
„Ja, was denn!?“, rief Seibert wütend. Er drehte sich zu dem Polizisten um, der ihn angesprochen hatte.
„Entschuldigen Sie, aber ich habe eben einen Anruf von der Zentrale bekommen.“
„Ja, und?“
„Wir haben die Personalien von Herrn und Frau Görkes überprüft.“
„Und?“
„Die Ehe ist kinderlos.“
„Wie meinen Sie das?“
„Wie ich es sage: Herr und Frau Görkes haben gar kein Kind.“