Heimat

Ich hab' es in Büchern gelesen. Und von alten Leuten habe ich es gehört. Es soll sowas tatsächlich geben: Heimat.

Sie bekommen dann ganz feuchte Augen und ihr Blick wird blicklos, er geht in eine unerreichbare Ferne, so scheint es. Zuerst verstummen sie, nachdem sie dieses Wort gesagt haben. Sie hören nicht einfach auf zu reden, sie werden still auf eine eigentümliche Art, die auch andere Anwesende daran hindert, etwas zu sagen, weiterzureden oder gar das Thema zu wechseln. Nach einer kurzen oder längeren Weile erscheint ein Glimmen am Ende dieses fernen Blickens, ein leichtes Leuchten von innen heraus und ein sanftes Lächeln gibt auch faltigen Gesichtern ein jugendfrisches Strahlen.

Sie sind noch nicht wieder „zurück“ in der Wirklichkeit, sie folgen einem inneren, einem sehr privaten Film, an dem sie die Umsitzenden teilhaben lassen. Zuerst in kleinen Szenen, dann immer flüssiger in größeren Sequenzen, bis der Film geschnitten ist und aus ihnen heraussprudelt, immer begleitet von diesem überirdischen Leuchten.

Da wird auch den anderen warm ums Herz, es geht gar nicht anders. Man nimmt teil an dieser Reise in die Vergangenheit. Denn „Heimat“ scheint nicht immer ortsgebunden. Es scheint eine Kombination zu sein zwischen Ort und Zeit. In den Erzählungen ist „Heimat“ immer „früher“ und hat Wurzeln.

Was werde ICH erzählen können?
So gesehen bin ich heimatlos. Ich habe keinen Ort und keine Wurzeln, ich habe nur die Zeit. Meine Eltern und meine Omas hatten noch alles, wenn auch nicht über die ganze Zeitspanne ihres Lebens.

Und da schon fängt es an: „Meine Omas“, ja, denn meine „Opas“ habe ich nicht kennengelernt. Alle sind gestorben, bevor noch an mich zu denken war. Alle? Ja, denn alles zusammengezählt, hätte ich vier haben müssen, zwei „echte“ und zwei „unechte“.

Was ich damit meine, wird klar, wenn ich direkt von meiner anderen ausgerupften Wurzel erzähle, meinem Vater, den ich auch nicht mit Bewusstsein kennenlernen durfte, denn er starb, als ich dreieinhalb war. Als ich acht war, hat meine Mutter nochmal geheiratet, aber auch da keinen Opa für mich mit in die Ehe bringen können. Der Krieg hat reiche Ernte gehalten.

Der Krieg? Nein, DIE Kriege, denn bereits in dem davor ist möglicher Opa Nummer vier (oder zwei?) einfach dort geblieben – im Krieg eben.
Also keine Opa-Wurzeln, keine Papa-Wurzeln, was ist mit den Orts-Wurzeln?

Wenn sie erzählten, meine Mutter und ihre Mutter, haben sie nicht alles erzählt, die schweigende Generation, meistens nur, dass ihnen „die Heimat“ genommen wurde.

Sie kamen aus dem Sagen- Reich des Rübezahl, eines überdimensionalen „guten Berg-Geistes“, der aber nur für die reinen Herzens „gut“ war, die anderen hatten Recht, ihn zu fürchten. Dieses unerreichbare Traumland hieß Schlesien, aus dem „der Krieg“ sie vertrieben hatte.

Sie hatten diese Orts-Wurzeln noch und wenn sie untereinander sprachen, war es wie ein geheimer Code: „Weißt du noch? Die Filusch-Liesel, wenn die mit ihrem Schäferhund am Tor stand, du weißt doch, die mit dem Sprachfehler…“ „Ja, das war doch die, wenn man in den Ort kam, gleich das zweite Haus?“ „Ja, die ihren Moh immer in die Kartoffeln gescheucht hat – wirschte wohl giehn!“

Und dann war das Lachen groß, bis beide stiller wurden und wieder verstummten, ganz weit weg. Und ich saß daneben, sah mit großen Augen von einer zur anderen und hatte nur meine Bilder im Kopf, aus denen sich langsam Filme formten, deren Drehbücher nicht ich geschrieben hatte: Der Filusch-Hund, der am Gartentor stand in der Abenddämmerung, aufrecht auf seinen Hinterbeinen, und Ortsfremde mit seinem drohenden Kehlenknurren in die Flucht trieb, das sich anhörte – aber haargenau so! – wie „Wirrrschte haargarrn!“, was so viel hieß wie „Wirst du’s wohl hergeben!“. In der Dämmerung sah es in echt aus, als stünde da ein Mann und würde drohen.

Auch mein zweiter Vater war aus Schlesien, das er kämpfend verlassen hatte, denn er war als Junge „zu den Waffen gerufen“ worden. Dabei wollte er doch eigentlich Schlosser werden. Es war ein anderer Ort in Schlesien, aber die Erinnerungen waren die gleichen. Er und Mamas Mutter waren beide aus kleinen Dörfern und da war der Alltag wohl austauschbar, wie es schien. In beiden wurden mit nackten Füßen Flusskrebse gefangen und Frösche aufgeblasen, bis sie platzten.

Später kam seine Mutter aus Polen, wie Schlesien jetzt hieß, in den Westen, so konnte ich wenigstens sie kennenlernen und stolz dann DREI Omas vorweisen. Aber sie redete so gut wie nie, und wenn sie den Mund mal aufmachte, dann nur für zwei-drei schlesische Wörter. Also auch von der Seite hatte ich maximal fremde Filmspots in meinem Kopf.

Von meines Vaters Seite war mir seine Mutter geblieben. Es gab zwar noch eine große Verwandtschaft von Opas Brüderseite her, aber die wollte „mit uns“ nichts zu tun haben. Vorausgegangen war ein Erbschaftsstreit und „wir“ waren die verarmte Seite der großen Baufirma. Außerdem war Oma wohl nicht standesgemäß, und als mein Vater dann noch die heimatlose, vertriebene „Kolchosebäuerin“ (was sie nie war) - und noch dazu katholisch! - heiratete, weil ich unterwegs war, bestand nur noch „Ansteckungsgefahr“. Immerhin war eine Straße nach meinem Opa benannt worden.

Und Oma erzählte nichts. Sie hatte um ihr Überleben zu kämpfen, da war nicht viel Zeit zu reden. Bis kurz vor ihrem Tod mit 72 Jahren habe ich von ihr das Bild im Kopf, wie sie am Küchentisch steht und im Akkord Hemden bügelt.

Dennoch: Wenn es für mich je ein Heimatgefühl gegeben hat, dann war es bei ihr. Sie war nicht nur – wortwörtlich – meine beste Freundin, sie ist mir mit ihrer zugewandten, lebensmeisternden Art ein bleibendes Vorbild geworden, das einzige, wenn ich ehrlich bin.

Andere Wurzeln kann ich nicht vorweisen. Ich habe keine räumlich verankerten Erinnerungen, die an die von vor Generationen anknüpfen könnten, kein verlässliches Fundament. Ich bin nirgendwo „die Tochter von“ gewesen, an deren Vorfahren man sich noch lebhaft erinnerte. Ich habe keine Orte, die man seit Generationen schon besucht hat, Verstecke, Geheimnisse, Familientreffpunkte, ausgetretene, weil vielbegangene, vertraute Wege.

Ich habe nur die Wege, die ich selber gehe. Und die gehe ich an immer anderen Orten, an denen ich mich mal mehr, mal weniger wohlfühle. In Duisburg gehe ich sie seit acht Jahren, weil mein vor etlichen Jahren verstorbener Mann sie in seiner Kindheit gegangen ist, bevor ich seinen Leichnam wieder zu seinen Wurzeln zurückbrachte in seine geliebte Heimat, in das Grab seiner Oma, das auch meines werden wird; immerhin heiße ich mit zweitem Vornamen wie sie.

Heimat, Ausdruck von Geborgenheit und Dazugehörigkeit .
So gesehen, bin ich Außenseiter - ich lebe auf Pump.

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