In den Sternen

Bild von Magnus Gosdek
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Fast jeden Abend sah er hinauf zu den Sternen. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, nahm er sich kaum Zeit zum Essen. Meist besorgte er sich während der Fahrt etwas auf der Hand. Das musste genügen. Seine Frau hatte es sich abgewöhnt, etwas für ihn zu kochen. Es lohnte sich einfach nicht. Sie hatte es sich auch abgewöhnt, ihm Vorhaltungen zu machen. Auch das lohnte sich nicht. Er hörte nicht hin.
„Ich verstehe nicht, was du willst. Ich treibe mich nicht herum, ich schmeiß das Geld nicht zum Fenster hinaus. Uns geht es doch gut“, sagte er.
Nun, immerhin hatte die Frau Ruhe. Kam er nach Hause dauerte es kaum eine halbe Stunde und er stieg die enge Treppe hinauf in das kleine Dachgeschosszimmer. Dort hatte er sich am Fenster ein Teleskop aufgebaut und blickte in den Nachthimmel. Während er Sternenbilder beobachtete, sah seine Frau Fernsehen.
Ironischerweise hatte er keine Ahnung von Astronomie. Sie interessierte ihn auch nicht. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, sich das notwendige Wissen anzueignen. Die Namen von einigen Sternenkonstellationen kannte er nur aus Horoskopen und Alpha Centauri war ihm einzig ein Begriff, weil er es irgendwann einmal zufällig gelesen hatte.
Er beobachtete die Sterne, weil sie so weit weg waren und leuchteten. Dann bekam er Fernweh. Er konnte das Gefühl nicht näher beschreiben. Die Millionen blinkender Punkte am Firmament trösteten ihn, doch wusste er nicht, weshalb. Aber er mochte sie nicht missen.
Das Teleskop war ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau gewesen. Vor ein paar Monaten glaubte sie, es sei eine wunderbare Idee.
„Damit kannst du bis in die Tiefen des Alls sehen“, hatte sie ihm erklärt. Am ersten Weihnachtstag baute er das Teleskop im dem Zimmer auf und als die Feiertage vorüber waren, sah er sich zum ersten Mal den Himmel an.
Manchmal saß er bis die halbe Nacht davor. Dann war seine Frau schon längst ins Bett gegangen und schlief. Sie träumte nicht mehr. Das hatte sie aufgegeben, aber er wusste nichts davon. Überhaupt wusste er nicht viel von ihr. Ebenso wenig wie von den Sternen, die er beobachtete.
Die Frau hatte sich überlegt, auch ein Hobby zuzulegen und ging nun zweimal in der Woche ins Fitnessstudio. Ihn störte es nicht weiter.
„Ich esse dann etwas auf der Heimfahrt“, sagte er ihr.
„Das solltest du“, sagte sie.
Nach dem Training ging sie manchmal mit den anderen aus dem Studio noch etwas trinken und dann kam sie später nach Hause. Sie waren eine gemischte Gruppe und die Frau fand Spaß daran, sich wieder mit Menschen zu treffen. Sie fand auch Spaß daran, wieder beachtet zu werden und dann kam sie noch später nach Hause. Aber nicht so spät, dass ihr Mann schon schlief. Er saß immer noch oben im Zimmer und sah hinauf ins dunkle Firmament.
„Wenn man sich vorstellt, dass es da oben Leben geben könnte…“, sagte er. Den Satz vervollständigte er nicht. Die meisten Sätze ließ er offen und die Frau hatte es sich angewöhnt, sie in ihrem Kopf selber zu beenden.
„Ich weiß nur, dass es hier unten Leben gibt“, sagte sie trotzdem.
„Natürlich“, sagte der Mann. „Aber es ist doch ein verlockender Gedanke, oder wie..."
„Wozu?“ fragte sie.
Darauf wusste der Mann keine Antwort. Über das Wozu hatte er sich bislang nie Gedanken gemacht. Er spürte nicht das Verlangen, zu den Sternen zu reisen. Er hatte nur Fernweh. Das war alles.
In der ersten Zeit hatte die Frau sich zu ihm ins Dachgeschosszimmer gesetzt und auch durch das Teleskop gesehen.
„Wie wunderbar“, sagte sie.
„Ja“, sagte ihr Mann. Doch mehr sprach er nicht und der Frau wurde es schnell langweilig. Sie bemerkte, dass es für ihn keinen Unterschied machte, ob sie dabei war oder nicht. So ließ sie es sein und er fragte nicht, ob sie ihm wieder einmal Gesellschaft leisten wollte.
Als der Herbst kam, war der Himmel öfter bewölkt und es wurde schwerer, die Sterne zu erkennen. Den Mann hielt es nicht davon ab, weiterhin vor dem Teleskop zu sitzen. Doch gewöhnte er es sich an, Musik dabei anzustellen.
Er liebte Chopin. Nun klangen die Klavierstücke aus dem Dachgeschoss herunter ins Wohnzimmer, dass die Frau den Fernseher lauter stellen musste. Früher mochte auch sie Chopin, doch nun machte er sie depressiv. Besonders, wenn es regnete. Sie ging nun öfter ins Fitnessstudio. Jeder hatte nun einmal seine Leidenschaft.
„Was bringt es dir, wenn du da oben hinauf starrst?“ fragte die Frau ihren Mann. Doch er zuckte nur mit den Schultern.
Wie sollte er ihr auch Fernweh erklären? Er wollte doch nicht weg. Es ging ihnen wunderbar, sie hatten ihre Ruhe. Während er träumte, ging sie ins Fitnessstudio. Alles war gut.
Im November begann es zu schneien. Die Autobahn kroch unter eine dicke Schneedecke. Der Verkehr staute sich kilometerweit und so kam der Mann erst spät nach Hause. Dieses Mal hatte er sich unterwegs nichts zu essen besorgen können. Doch seine Frau hatte gewohnheitsmäßig auch nicht gekocht.
Sie saß auf dem Sofa und die Reisetasche stand neben ihr auf dem Boden. Die Frau sah aus dem Fenster hinaus in die Finsternis der Straße, als ihr Mann eintrat.
Er zog seine Jacke aus und hängte sie wie jeden Abend an die Garderobe.
„Das gibt heute eine furchtbar schlechte Sicht“, sagte er.
Die Frau antwortete nicht darauf. Sie wandte ihm ihren Kopf zu.
„Ich verlasse dich“, sagte sie.
Der Mann starrte sie an und sie stand auf.
„Ich habe nur noch auf dich gewartet“, redete sie weiter. „Es hat keinen Sinn mehr.“
„Warum?“ fragte der Mann, während die Frau ihren Mantel überwarf und nach der Reisetasche griff.
Die Frau ging an ihm vorbei zur Tür. Dort blieb sie stehen und wandte sich zu ihm um.
„Das steht in den Sternen“, sagte sie.
Dann öffnete sie die Tür und verließ die Wohnung.

Interne Verweise

Kommentare

03. Mai 2015

Die Geschichte - gelesen gern!
(Daher bekommt sie einen Stern...)

LG Axel

04. Mai 2015

Oh! Wow! Tolle Geschichte und toller Effekt, Magnus. Ich liebe Deine Art zu erzählen sehr.

04. Mai 2015

Vielen Dank Euch beiden. Manchmal solte man sich doch um das kümmern, was so nah ist. LG Magnus