Letzter Tag

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„John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“
John wachte auf. Er war müde, sein Körper schmerzte etwas, er war alt geworden. Der letzte Tag vor dem Ruhestand. Ein persönlicher Gruß aus den Lautsprechern? Das hatte er nicht erwartet. Normalerweise war es ein stumpfes „Aufwachen“ mit einem schrillen Piepton. Es fühlte sich gut an, irgendwie besonders.
Das winzige Zimmer grenzte direkt an den Flur und er hörte, wie die ersten Türen sich öffneten. Die Kollegen, die auch ihren letzten Tag hatten. Derrick, Trevor, Martin, Daniel, Peter, David.
Er zog sich schnell die Arbeitskleidung an und ging nach draußen auf den Flur, schloss die Tür ab. Daniel fummelte an seinem Schloss herum, zitterte leicht, bekam es nicht auf Anhieb hin. Sie alle hatten damals am selben Tag angefangen und würden heute am selben Tag in den Ruhestand gehen. Ein kleines Haus in einem der Vororte. Auf dem Gang grüßte man sich wie üblich, lächelte einer guten Zukunft entgegen. An den Wänden hingen einzelne Bilder von den Häuschen, die einen erwarteten, aber auch Bilder der Direktion, alles dicke, alte Männer und Frauen, die mit einem falschen Lächeln auf die Arbeiter herunterstarrten.
„Der letzte Tag“, sagte Trevor und lächelte dabei. „Der letzte Tag.“ Es hatte etwas magisches.
Sie kamen am Ende des Ganges an und Derrick drückte auf den Fahrstuhlknopf, woraufhin aus den Lautsprechern eine Ansage ertönte: „Der letzte Tag. Gib noch einmal alles und bleib uns gut in Erinnerung!“ John hatte nie gewusst, welchem Zweck die Sprechanlage an dieser Stelle diente oder ob sie überhaupt funktionierte. In all den Jahren war sie kein einziges Mal genutzt worden.
Der letzte Tag, noch einmal alles geben!
Die Schiebetür öffnete sich und sie gingen zusammen hinein. Es war stickig im Fahrstuhl und er quietschte unangenehm, aber in all den Jahren war noch nie etwas schlimmes passiert. „Müsste mal repariert werden“, sagte Trevor. „Nicht mehr unser Fall“, gab Peter zurück.
Der Alltag war hart, aber im Gegenzug musste man nur 25 Jahre seines Lebens arbeiten. Das war der Deal. 25 Jahre in den Werken von Eryhmaik und danach ein kleines Häuschen an einem netten Plätzchen. Noch einmal alles geben; der letzte Tag.
Der Fahrstuhl kam an und öffnete sich mit einem weiteren lauten Quietschen.
Die Gruppe schritt heraus und befand sich noch im Vorraum des Fabrikgebäudes. Hier konnte man sich allerlei Kleinigkeiten holen, die man in den Pausen so brauchen könnte. Zigaretten, etwas zu trinken, Naschkram, aber auch Zeitschriften oder kurze Bücher. John zog eine Schachtel Ebony & Brooks aus dem Automaten. Ein Feuerzeug lag der Packung bei. Die meisten der anderen waren vorgegangen, nur Trevor überlegte noch, welches Tittenheft er sich kaufen würde.
Danach ging er durch die Tür des Vorraums in einen verglasten Gang, in dem er Ausblick auf die Stadt hatte. Seit Jahren war er nicht mehr dort gewesen, aber bald wäre ja genug Zeit dafür.
Am Ende des verglasten Ganges war eine weitere Tür und der Pförtner Samuel saß dort vor einem kleinen Tisch. Er hatte ebenfalls vor Jahren mit der Truppe in der Fabrik angefangen, aber musste schon früher aufstehen. Der Posten des Pförtners war etwas spezieller.
„Der letzte Tag!“, sagte John zu Samuel und dieser lächelte schief. „Ja, der letzte Tag.“ Er wirkte etwas niedergeschlagen. „Ist alles in Ordnung?“ „Natürlich, natürlich“, gab Samuel zurück und vermerkte kurz auf einem Papier, dass John pünktlich erschienen war. „Bis später dann“, sagte John noch, Samuel gab aber keine Antwort.
John durchschritt die Tür und befand sich in dem gigantischen Stahlwerk. Die Decke wurde von kalten Neonröhren beleuchtet und die ganze Halle wirkte etwas gespenstisch. Es herrschte schon reger Betrieb an den Maschinen und John nahm seinen Platz ein.
Die Schicht verstrich ruhig, aber er gab sich extra Mühe, fertigte viele Sachen doppelt so schnell ab. Der letzte Tag. Noch einmal alles geben. Gut in Erinnerung bleiben.
Später gab es Mittagessen am Rand der Halle und danach war noch etwas Zeit, die Pause war noch nicht zu Ende. Mit der Schachtel Ebony & Brooks verschwand John aus der Halle auf den dafür vorgesehenen Balkon.
Samuel stand schon dort und rauchte seine „Blue Lady Cigarettes“, etwas abseits saß Trevor und blätterte in einem Tittenheft. Samuel wirkte fahrig; er rauchte anders als sonst, als würde ihn etwas belasten. John wartete ab, aber als Samuel auch nach einiger Zeit nichts sagte, begann er: „Ich bin gespannt, wie das oben bei der Direktion ist.“ Samuel sah nach oben, dort wo er wahrscheinlich den Platz der Direktion vermutete und machte einen seltsamen Gesichtsausdruck, stand einige Sekunden so da. „Wird sicher ganz nett.“ „Weißt du, ich glaube einfach –“ „Pause vorbei. Letzter Tag. Noch einmal alles geben!“, tönte es aus den Sprechanlagen.
Samuel nickte, obwohl John nicht zu Ende gesprochen hatte, drückte seine Zigarette aus und verschwand im Inneren. John war kurz perplex, aber drückte ebenfalls seine Zigarette aus, um mit Trevor hineinzugehen. „Was denkst du? Ob man sich mal wieder trifft, wenn man draußen bei den Häusern ist?“ „Sicher“, sagte John und runzelte die Stirn. Ob das Samuel Sorgen machte? Ob man sich Wiedersehen würde?
John hatte sich gerade an seinen Platz gesetzt, als plötzlich ein Krachen und kurz darauf ein Schrillen ertönte. Einer der Förderkörbe hatte sich halb von seiner Schiene gelöst und schwang hängend hin und her. John hatte gerade erst die Lage registriert, als der Korb vollständig von der Schiene riss und nach unten fiel.
Das Krachen war ohrenbetäubend.
Der Schreck schien alle durchzogen zu haben. Es kam ab und zu vor, dass etwas kaputt ging, aber es war trotzdem jedes Mal ein Schock. Das Programm kannte man aber. Nur wenig später kamen einige Männer herein, sahen sich den Schaden an und entsorgten das Metall; sie sollten einfach weiterarbeiten, den Betrieb nicht aufhalten.
Der Rest der Schicht verlief ruhig und am Ende ertönte ein Piepen, die Sprechanlagen schalteten sich wieder ein. „Kommen Sie alle bitte zum Nebeneingang. Ihre Schicht endet hier. Danke für Ihre großartige Arbeit.“
John lächelte, sah noch einmal über seinen Arbeitsplatz und verabschiedete sich innerlich. Einmal strich er noch über das kalte Metall, dann stand er auf und ging zum Nebeneingang, die anderen warteten schon dort. Trevor hatte seine Zeitschrift irgendwo an

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