Spatz, Ted und der Magier - Page 2

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von Dieter J Baumgart

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hatte einfallen lassen müssen. Damals war Opa so etwa zehn Jahre, so alt wie die Zwillinge jetzt. Und damals hatten die Einfälle des Magiers  –  nicht selten zu Opas eigenem Erstaunen und seiner Eltern Verwunderung  –  eine überraschende Wirkung gehabt. Wobei der Magier stets unauffällig im Hintergrund blieb. Auch, wenn Opas Eltern gelegentlich anmerkten:         „Rudolf, das ist doch nicht auf deinem Mist gewachsen!?“

     „Wir müssen sie verunsichern“, fuhr der Magier fort. „Wir ...“

     „Die Zwillinge??“ fiel ihm Spatz ins Wort.

     „Unsinn! Die Anderen  –. Die Zwillinge bauen wir auf!“ Der Magier dachte daran, wie oft er Opa ‘aufgebaut’ hatte. Und so machten sich die Drei ans Werk.

     In der darauffolgenden  Woche  –  es war Dienstag, und nach der großen Pause stand Sachkunde auf dem Stundenplan  –  ließen sich die Zwillinge zu Pausenbeginn unbemerkt im Klassenraum einschließen. Während Peter den Flur durch das Schlüsselloch im Auge behielt, klappte Petra die große Wandtafel auseinander und schrieb mit Kreide und in schönster Schönschrift einen Satz auf die Innenseite. Dann klappte sie die Tafel wieder zu, legte die Kreide zurück in die Schale und wartete mit ihrem Bruder zusammen auf das Ende der Pause, um sich dann wieder unauffällig unter die hereinströmenden Mitschüler zu mischen, was schließlich auch problemlos gelang. Kurz danach betrat Bernd Hofbauer, der Sachkundelehrer, den Klassenraum, was ein mäßiges Absinken des Geräuschpegels zur Folge hatte, und betrachtete seine Schützlinge:
    
     „Na, ausgetobt?“

     „Jaaa ...“, tönte es lautstark aus achtundzwanzig Kinderkehlen.

     Es folgte ein prüfender Lehrerblick über die versammelte Schülergemeinde: Ah ja, die Zwillinge! Auf dem Hof waren sie ihm heute gar nicht aufgefallen. Na ja, muß ja auch nicht immer der Fall sein.

     „Na gut  –. Ihr erinnert euch sicher, daß wir am letzten Freitag über den Meeresspiegel sprachen. – Martin, kannst du das Buch mal wieder zuklappen?  –  Das ist nett von dir! Also, da gibt es zum einen den theoretischen Meeresspiegel, der dient als Grundlage für alle Höhenmessungen. Zum anderen ist da der natürliche Meeresspiegel. Und der unterliegt Schwankungen von elf Zentimetern bis zu fünfzehn Metern.  –  Weiß jemand, woran das liegt?“

     Sieben Hände wurden hochgestreckt.

     „Na? Martin, bitte?“

     „Das ist Ebbe und Flut.“

     „Richtig, die Gezeiten.  –  Nun gibt es aber auch ein Meer  –  ja, eigentlich ist es nur ein größerer See, der liegt nicht etwa, wie alle anderen Seen, höher als die Meere, sondern tiefer. Seine Wasseroberfläche liegt rund vierhundert Meter unter dem Meeresspiegel. Man nennt diesen See auch das ‘Tote Meer’.  –  Und damit wollen wir uns heute be...“ Bernd Hofbauer hatte die Tafel aufgeklappt und stutzte.

     „Aus der Tatsache das niemand weiß, woran das tote Meer gestorben ist, läßt sich nicht das Recht ableiten, andere Gewässer vorsätzlich umzubringen“, war da in schönster Schönschrift zu lesen.

     „Hinter Tatsache setzen wir ein Komma, und ‘das’ wird hier mit zwei ‘s’ geschrieben ...“ Dann fehlten dem Sachkundelehrer erst einmal die Worte, und er brachte die entsprechenden Korrekturen an. „Wer hat das an die Tafel geschrieben?“

     „Meine Schwester!“

     „Stimmt das, Petra?“

     „Ja  –“, kam es etwas dünn aus der Tiefe des Klassenraumes.

     „Hast du das irgendwo gelesen?“

     „Nein!“ klang es schon etwas fester.

     ‘Das ist doch nicht auf deinem Mist gewachsen’, dachte Bernd  Hofbauer, aber er sagte es nicht.      „Weißt du, manchmal sagt ein einziger Satz mehr  aus, als zehn dicke Bücher.  –  Und ich glaube, das ist hier der Fall. Ich glaube dir auch, Petra, daß du das nicht abgeschrieben hast. Aber  –  aber ich bin auch ziemlich sicher, daß du nicht so ganz genau weißt, was du da geschrieben hast.“

     „Mhm ...“, klang es etwas verlegen, während sich einige Reihen weiter hinten schadenfrohes Kichern breitmachte.

     „Und ich bin ganz sicher, daß es da nichts zu lachen gibt. Schon gar nicht da hinten!“ Der Sachkundelehrer schien in einer Weise verwandelt, die ihm selbst noch nicht ganz klar war. „Wißt ihr eigentlich, was das ist, H²O  –?  Wasser, das ist nicht irgend eine Flüssigkeit  –  Wasser, das ist Leben! Das ist die Grundlage allen Lebens auf diesem Planeten ...“, hörte er sich selbst reden. Da war plötzlich etwas, das schien ihm wichtiger, als Wissen zu vermitteln: Verständnis! Und von dieser Stunde an setzte Bernd Hofbauer die Unterrichtsschwerpunkte etwas anders. Es war nicht mehr nur von den großen Flüssen, ihren Einzugsgebieten, ihrer Flora und Fauna die Rede. Auch die Betonkanäle, die einmal Bäche waren, wurden anhand alter Stadtpläne und Straßenbezeichnungen wiederentdeckt. Als Bernd Hofbauer an diesem Tag das Klassenbuch zuklappte, war er sicher, von den meisten seiner Schüler verstanden worden zu sein.

Die letzte Mittwochskonferenz vor den Sommerferien ging dem ersehnten Ende zu, als der Schulleiter sich leise an seinen ‘Biologen’ wandte:
     „Ach, Herr Kollege, kommen Sie doch bitte gleich noch in mein Büro? Ich  –  ich müßte da noch etwas mit Ihnen besprechen.“

     Eine viertel Stunde später dann, bei einer Tasse nicht zu starken Kaffees:
     „Nehmen Sie Milch, Herr Hofbauer? ... ja, bitte schön. Danke. Nun, kommen wir gleich zum Thema  –. Es tut mir leid, Herr Hofbauer, aber aus der Elternschaft ist eine Beschwerde über Sie an mich herangetragen worden. Ich möchte das nicht an die große Glocke hängen  –  ich denke, wir können das hier erledigen, wenn Sie damit einverstanden sind.“

     Der Sachkundelehrer schien ein einziges Fragezeichen.
     „Sie werden mich sicher über meine Verfehlungen aufklären?“

     „Ich bitte Sie, Herr Kollege! Von Verfehlungen kann hier überhaupt keine Rede sein  –. Es geht  –  nun, einige Eltern nehmen Anstoß an der Art, wie Sie biologisches Wissen vermitteln  –  oder, so wurde gesagt  –  werten.“

     „Ist diese Kritik klassenübergreifend oder ...“

     „Nein, es handelt sich um die 4c  –.  Frau Rottke, die Pflegschaftsvorsitzende, hat sich im Auftrag einiger Eltern an mich gewandt.“

     „Würden Sie das, bitte, etwas präzisieren? Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß mein Unterricht zu einer solchen Beschwerde Anlaß geben könnte.“

     „Herr Hofbauer,  –  rundheraus gesagt, Ihre Bewertungen des Unterrichtsstoffs werden als etwas überzogen kritisiert.“

     „Wenn Sie diese Ansicht teilen, Herr Rektor, dann bitte ich um meine Versetzung!“ Bernd Hofbauer wurde förmlich.

     „Lieber Herr Kollege, bitte! Wir wollen das nun nicht auf die Spitze treiben! Ich habe eben das wiedergegeben, was mir Frau Rottke als Ansicht einiger  –  einiger weniger Eltern vorgetragen hat. Ich schätze Sie als Mensch und als Pädagoge. Ich hätte überhaupt keinen Anlaß, Ihr Versetzungsgesuch zu befürworten. Die 4c  –  sagen Sie  –  sagen Sie, da sind doch auch die Zwillinge, nicht wahr? Ich weiß  –  ich weiß!  –  bitte, lassen Sie mich zu Ende reden  –. Also, die 4c hat einige Besonderheiten. Ich weiß nicht, ob es Zufall ist; jedenfalls ist in dieser Klasse eine größere Gruppe von Kindern aus  –  nun, sagen wir, aus Familien vertreten, denen Umweltfragen nicht sehr am Herzen liegen, und die sich ganz gewiß nicht von ihren eigenen Kindern belehren lassen möchten ... Kurz gesagt, ich habe nicht die Absicht, Sie diesen Leuten zu opfern! Aber ich bin da natürlich auch auf Ihren guten Willen angewiesen, Konfliktsituationen zu vermeiden... Und noch eines, bevor Sie dazu Stellung nehmen: Ich würde Sie gern für eine Ferien-AG gewinnen. Sie könnten sich dann die Teilnehmer aussuchen, mit denen Sie arbeiten möchten. Und wenn das klappt, könnte das auch zu einer festen Einrichtung während der übrigen Zeit werden. Nach den Ferien haben wir Frau Blümel als Vollzeitkraft. Und außerdem gibt es für diese Zwecke einen Etat, der bisher kaum in Anspruch genommen wurde. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn sich die Inhalte der AG mit dem decken, was Ihnen diese Beschwerde eingebracht hat. Natürlich in vertretbarem Rahmen  –. Wir  können hier schließlich keinen Nachwuchs für Greenpeace ausbilden ... Habe ich mich verständlich ausgedrückt?“

     Er hatte.

     Daß die Ferien-AG ein Erfolg wurde, versteht sich fast von selbst. Daß die Zwillinge zu den eifrigsten Mitarbeitern gehörten, muß auch nicht ausdrücklich erwähnt werden. Daß aber auch Spatz, Ted und der Magier mit dabei waren, hat damit zu tun, daß alles, was geschieht, irgendwo einen tieferen Sinn hat. Und das kam so: Trotz der kurzen Vorbereitungszeit, die zur Verfügung stand, war das Interesse an der neuen AG unerwartet groß. Noch vor den Sommerferien trafen sich fünfundvierzig Kinder mit ihrem Sachkundelehrer im Vortragsraum der Schule und bemühten sich, Nägel mit Köpfen zu machen. Was dabei herauskam, war ein Plan, der sich sehen lassen konnte: Wer in Urlaub fuhr, sollte Beispielhaftes und Kritikwürdiges sammeln und nach den Ferien berichten. Wer zu Hause blieb, und das waren nicht wenige, hatte zwei Möglichkeiten: Entweder praktischer Naturschutz, zum Beispiel Straßenbäume bewässern und das Aufspüren wilder Müllkippen, oder  –  und das betraf die handwerklich Interessierten  –  das Aufarbeiten von alten Spielsachen.

     „Denn“, so hatte Bernd Hofbauer seinen Vorschlag begründet, „alte Spielsachen sind keine gewöhnlichen Gegenstände. Sie leben  –. Man muß es nur erkennen  –. Und dann haben sie viel, sehr viel zu erzählen.“

     Der Vater der Zwillinge hatte sich angeboten, diese Gruppe zu betreuen. Auf der Suche nach altem Werkzeug fielen ihm Spatz, Ted und der Magier in die Hände.

     „He, ihr Beiden, kommt mal her!“ rief er die Zwillinge. „Ich habe Arbeit für eure Gruppe!“

     „Opas alte Spielsachen! Mensch, die nehmen wir uns vor.“

     „Die waren doch in dem alten Koffer“, erinnerte sich nun auch die Mutter der Zwillinge und musterte die Fundstücke kritisch.

     „Nun, ich denke, du kannst den Kindern auch wertvolle Tips geben, was Sauberkeit und Hygiene betrifft.“

     „Oh, ich kann euch auch Arbeit beschaffen!“ ergänzte die Kindergärtnerin ihren Mann. „Ich glaube, bei uns in der Tagesstätte kommt einiges zusammen.“

     „Altes Spielzeug, bitte, keine Barbie-Puppen!“ schränkten die Zwillinge ein.

     In der Weihnachtszeit trat die Arbeitsgemeinschaft zum erstenmal an die Öffentlichkeit. In den Räumen der Kindertagesstätte fand eine Ausstellung statt, die einen Überblick über die Aktivitäten der Gruppe ‘SPATEM’ bot. Den Namen hatten sie sich nach langer Diskussion selbst gegeben, nachdem ein Pressebericht die Arbeitsgemeinschaft gewürdigt hatte. Der Vater der Zwillinge, der inzwischen auf Vermittlung von Bernd Hofbauer eine Umschulung zum Sozialarbeiter machte, hielt die Eröffnungsrede.

     „SPATEM?“ wurde er gefragt, „was ist denn das. Ist das eine Abkürzung?“

     „Fragen Sie doch die Kinder“, meinte er und lächelte.

     „‘SPATEM’ ist ‘SPATEM’! Das sind ganz einfach wir!“ gaben die zur Antwort.

     Die einzigen, die dazu noch etwas hätten sagen können, saßen beim Basar in der Kindertagesstätte auf einer alten Kommode, vor sich ein Schild „UNVERKÄUFLICH“. Es waren SPAtz, TEd und der Magier.

     Und wenn nun jemand meint, das sei ein schönes Märchen, dann ist dem nur hinzuzufügen, daß auch Märchen wahr werden können.

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