Und wir Renn'n - Page 2

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wollte man zunächst auch keine Wohnung hier haben, sondern das Ufer der Touristen wegen als Parkanlage erhalten, abgerundet durch die pittoreske Ruine einer Industrieanlage, die langsam von der Natur erobert wird. Erzählten sie es nicht so, als man beschloss, nun doch Wohnungen in die Ruine zu bauen? Sagten sie nicht, es wäre nun an der Zeit, die Fabrik wieder lebendig werden zu lassen? Man wolle nicht mehr die Erinnerung konservieren, sondern das Alte mit neuem Leben füllen. Plötzlich war die Fabrik als Ruine ein Schandfleck, der seinen Schatten auf die Stadt warf. Ein Zeichen des Stillstandes und der ungenutzten Möglichkeiten. Haben wir damals nicht schon gelacht und gesagt: Was reden die da? Jeder hatte die Ruine doch akzeptiert und sie war Teil der Stadt geworden, oder war sie es nicht? Es war fast skandalös, als diese Ruine nun plötzlich so abgewertet wurde, nur um sie als begehrten Wohnort auszuschlachten. Nun sind wir natürlich traurig, aber so ist der Gang der Dinge, nicht? Aber wir sollten wütend sein, denn man hat uns angelogen! Es ging nie darum, die Ruine als pittoreske Erinnerungsstätte zu erhalten. Es grassierte die Angst, sich der Fabrik überhaupt zu nähern und man hat uns über die wahre Geschichte der Fabrik getäuscht. Denn was wir nicht wussten, ist, dass sich hier eine blutige Geschichte abgespielt hat. Diese Geschichte ist der Grund, warum die Produktion schon während des Krieges eingestellt wurde, und nicht erst danach. Ja, so ist es! Das ist noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Fabrik florierte und jede Menge Menschen hier beschäftigt waren. Alles spielte sich vor rund 80 Jahren ab und zwar so:
Die Fabrik ist das Herzstück der Stadt. Mehrere Generationen von Familien haben schon in der Fabrik gearbeitet. Der Gründer war ein beliebter Mann, tat viel für die Gemeinde und setzte sich für seine Arbeiter ein, baute ihnen Wohnungen und versorgte sie mit Lebensmitteln, wenn diese wieder knapp waren. Jetzt führt sein Sohn die Fabrik. Er bezog nach dem Tod des Vaters dessen große Villa und übernahm die Geschäfte. Er ist ein gerade gewachsener Mann, der etwas unzeitgemäß einen militärischen Schnauzer zur Schau stellt. Überhaupt ist er penibel darauf bedacht, mit seinem Körper stets Entschlossenheit und Tatendrang auszudrücken, zu zeigen, dass sich alles um ihn herum seiner Kontrolle unterwirft. Nach außen hin setzt er das Leben seines Vaters fort. Er und seine Frau verkehren in angesehenen Kreisen, pflegen gute Beziehungen zu Industriellen im Ausland. Ihre Kinder fallen allen durch ihre angenehme Art und ihre gute Erziehung auf. Aber anders als sein Vater ist der Fabrikant ein furchtbarer Tyrann. Das gute Leben der Fabrikarbeiter ändert sich von dem Tag an zum Schlechten, an dem er die Fabrik übernimmt. Der Versuch, jede Menge Geld aus der Fabrik zu pressen, um es anderswo zu investieren, führt die Arbeiter zur Schlachtbank: unbezahlte Überstunden, Gewerkschaftsverbot, fadenscheinige Entlassungen. Die Fabrik wird nun mit eiserner Hand geführt. Die Leute sind empört, aber auf die Arbeit angewiesen, so kommt ihm keiner in die Quere. Was die wenigsten Wissen, ist, dass er auch zu Hause ein wahrer Despot ist. Gibt es Probleme mit Lieferanten oder anderen Handelspartnern, oder ist zu Hause nicht alles in perfekter Ordnung, prügelt er seine Frau und seine Kinder. Hat er das Gefühl, über nur die kleinste Bewegung nicht ausreichend informiert worden zu sein, prügelte er seine Frau und seine Kinder. Benimmt sich eines seiner Kinder nicht, wie er es sich vorstellt, verprügelt er seine Frau und seine Kinder. Er verbietet seinen Kindern sogar immer wieder genau die Sachen, von denen er weiß, dass sie sich am meisten darüber freuen würden. Sieht er die enttäuschten Gesichter, betont er, dass das wahre Leben ihnen auch nichts umsonst gebe. Aber um seine Mundwinkel kräuselt sich bei alle dem immer ein hämisches Grinsen. Es ist, als ob er sich nur in diesen Situationen einen Ausbruch aus seinem stahlharten Charaktergehäuse erlauben würde.
Seine jüngste Tochter aber, die trägt er auf Händen. Jeden Wunsch liest er ihr von den Lippen ab. Wenn er sie beim Spielen beobachtet, scheint sein ganzes Wesen weicher zu werden, irgendwie aus der Form zu geraten. Er ist stets darauf bedacht, für seine Tochter die liebenswürdige Vaterfigur zu mimen und versucht mit allen Mitteln, dass sie nicht sieht, wie er ihre Geschwister und ihre Mutter verprügelt. Wenn die anderen nicht zugegen sind, erzählt er ihr von deren Faulheit und Unaufrichtigkeit. Es ist wie ein wahnhafter Zwang, dass er sich vor seiner Tochter dafür rechtfertigt, dass ihre Geschwister immer wieder blaue Flecken oder Schrammen haben. Und immer wenn er sich vor ihr gerechtfertigt hat und sie verständnisvoll nickt, fühlt er, als habe er die Absolution bekommen.
Augenscheinlich ist es kein Zufall, dass er gerade dieser seiner Töchter so verfallen ist. Alle Personen, die mit ihr zu tun haben, verfallen ihren guten Manieren, ihrem höflichen, aber selbstbewussten Auftreten und ihrer kindlichen Schönheit. Sie ist wirklich das Prachtstück der Familie und selbst ihre Geschwister sind darum nicht neidisch, sondern empfinden eine tiefe Zuneigung zu ihr.
Natürlich versuchen die anderen Geschwister die jüngste Tochter vom schlechten Charakter des Vaters zu überzeugen, zeigen ihr die blauen Flecken, berichten ihr unter Tränen, was passierte. Aber sie gibt sich nie komplett überzeugt, fragt, ob die Geschwister nicht an dem Tag auch mit dem Fahrrad gestürzt seien oder ähnliches. Egal wie oft ihre Geschwister versuchen, sie zu überzeugen, immer hält sie am Vater fest, immer findet sie eine Erklärung, die den Vater entlastet und die Zweifel an der Geschichte der Geschwister aufkommen lässt. Ihre Geschwister verzweifeln schier, sehen sie doch in ihr einen möglichen Schlüssel, den Charakter des Vaters noch zum guten zu wenden.
Da Worte keine Wirkung erzielen, nimmt sich ihr Bruder schließlich vor, es ihr zu zeigen. Er schlägt ihr vor, doch einmal mit anzusehen, wie der Vater mit den Arbeitern in der Fabrik umgeht. Denn obwohl der Vater sehr darauf achtet, dass die Kinder nichts vom Leben der Arbeiter mitbekommen, hat er erfahren, wie es um die Arbeitsbedingungen in der Fabrik steht. Bruder und Schwester schleichen also auf den Dachboden der Fabrik und beobachten durch ein

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