Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten) - Page 3

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von Alf Glocker

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Leute haben, denen es gelungen ist, eine Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß sie Kapazitäten seien! Kurz: hinter dem Einkommen ganz normaler Menschen also!“

Richter: „Das ist fatal! Und was halten die Sachverständigen in Punkto `Qualität der Arbeit` davon?“

Ein zweiter Sachverständiger schwebt hinzu.
„Wenn man allein die bloße, für ein irdisches Dasein unbedeutende, Qualität der vom Angeklagten erstellten Werke betrachtet, kommt man zu einem völlig unmoralischen Ergebnis! Man müsste ihn womöglich mit dem Versager Schiller, oder dem völlig hemmungslosen Rousseau, die uns ja schon hinreichend bekannt sind, vergleichen. Seine Gemälde ähneln ein wenig denen des erhabenen Dalì, seine Verrücktheiten aber eher denen Van Gogh’s“.

Richter: „Das ist allerdings höchst bedenklich! Was wurde dagegen unternommen?“

„Uns ist zu Ohren gekommen, daß sich eine Frau ernstlich bemühte ihn zur Ordnung zu rufen. Sie tat alles, ihn zu einem gebührlichen Lebensstil umzuformen und sie setzte dabei sogar ihr eigenes Leben auf’s Spiel!“

Richter: schnalzt mit der Zunge. „Das heißt, sie hat versucht sich aus Liebe oder etwas Ähnlichem umzubringen“?

„Genau! Sie stellte ihn 2mal vor die Entscheidung `Liebe oder Egoismus` und er hat sich 2mal für seinen Egoismus entschieden! Ein anständiger Mensch hätte sicherlich anders gehandelt!“

Goethe und Voltaire schweben vorbei. Sie grinsen schelmisch, denn von Drückebergerei haben sie keinen Schimmer. Beide hatten Verhältnisse mit zahlreichen Frauen und beide waren sich des Erfolges der Ehre bewusst, die man erreicht, wenn man sich nicht ziert.

Der Angeklagte erschauert zutiefst, in Bewunderung über das Glück arrivierter Kreise und seufzt deutlich vernehmbar.

Es fängt zu regnen an. Der Regen dringt, aus den unteren Wolkenschichten, in einem dicken Strahl nach oben. Aber das Wasser prasselt lediglich auf den Angeklagten, der nun wie ein begoss’ner Pudel dasteht. Alle übrigen Akteure des allerhöchsten himmlischen Heerscharengerichts bleiben selbstverständlich davon verschont und erfreuen sich weiterhin bester Gesundheit, während Egon Ekel alias Uwe Unhold sofort zu niesen anfängt.

„Seht euch das an!“ zetert der Himmelsanwalt, „nun macht er auch noch auf sensibel! Seit Jahrzehnten bereitet er allen, die ihn ertragen müssen widrige Umstände und wenn ihm selbst einmal eine Kleinigkeit geschieht, dann flippt er gleich aus mimt den Eingebildeten Kranken. Man sollte seine `Leiden` deutlich abkürzen! Findet ihr nicht?!“

Der Richter, der Himmelsanwalt, der Pflichtverteidiger und sämtliche anwesenden Koryphäen auf dem Gebiet des reinen Sachverstandes schmunzeln. Aber der Angeklagte fühlt sich zu einem Kommentar hingerissen:

„Ja“.

Ein nun stattfindender Wolkenbruch verdeutlicht den göttlichen Zorn über eine Welt, in der es anscheinend Geschöpfe wie diesen Angeklagten geben kann, der weder genug innere Stärke, noch die Bereitschaft für andere zu sorgen kennt, wenn es um seine sogenannten „Inneren Stimmen“ geht. Daher fällt er aus allen Wolken ins bodenlose Loch!

In rasender Geschwindigkeit nähert er sich der harten Oberfläche der Realität und droht, trotz seiner intensiven Bemühungen den Geist fliegen zu lassen, zerschmettert zu werden.

Das allerhöchste aller Allerhöchsten Gerichte ist darüber auf Äußerste amüsiert! Schallendes Gelächter dringt aus den trocken gebliebenen, himmlischen Gefilden, dann erscheint jedoch auch eine helfende Hand, die den völlig durchnässten Deppen, die getaufte Maus, kurz vor dem Aufprall, auffängt. Der Angeklagte ist, durch den schier endlosen, rasanten Fall, schon fast bewusstlos geworden. Deshalb hört er auch die Stimme kaum noch, die verkündet: „Nicht, daß du es verdient hättest nicht zu sterben, aber so leicht kommst du uns nun auch wieder nicht davon! Das Verfahren wird hiermit auf morgen vertagt!“

Eine Nacht, die es in sich hat, folgt dem Tag auf dem Fuß! Das allerhöchste Himmelsgericht hat die Traumgeister aufgerufen, in die Angstospähre des Angeklagten einzudringen, so, daß sich, im Schlaf, die dämonischsten Schauspiele ereignen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Dies geschieht zur Disziplinierung der armen fehlgeleiteten Seele, damit sie anderntags Schutz suchen möge, unter den Fittichen einer bürgerlichen Erwartungshaltung, die mehr als gerechtfertigt scheint! Das könnte eine Umkehr zur Folge und die Einsicht in eine Bestrafung ermöglichen, die ohnehin unausweichlich ist.

Dann dämmert über einem vor Erschöpfung Keuchenden der Tag!

3. Akt, 1. Szene

Dem Gefangenen wurden inzwischen Ketten angelegt. Rasselnd schleppt er sie hinter sich her, voller Verwunderung, daß ihn die Wolken immer noch tragen. Es sind die Ketten der Abhängigkeit von einem Gesellschaftssystem, welches sich einer wohlverdienten Rechtmäßigkeit erfreut, ohne gesicherte Anhaltspunkte dafür zu haben – wenn man einmal die Urteilssprüche des Allerhöchsten Himmlischen Heerscharen-Gerichts außer Acht lässt.

Sämtliche, im Gerichtssaal über den Wolken versammelten Amts- und Würdenträger erheben nun gleichzeitig ihre Stimmen und schreien – nahezu schon unartikuliert - : „Wie heißen Sie??!!“

„Mein richtiger Name ist `Lottergraph Luzifer`“.

Der Gerichtsdiener mit den Hörnern, dem Pferdefuß und dem roten Schwanz grinst hämisch, erhebt jedoch keinen Einspruch um nicht aufzufallen.

Richter: „Na, das ist doch endlich einmal ein Eingeständnis der offenen Art. Unsere Traumgeister haben also etwas bewirkt?!“

Der Angeklagte, noch schwitzend von der Folter der Nacht, gesteht:

„Ja“.

„Was für ein Häufchen Elend!“ lacht der Himmelsanwalt. „Man will ihm jetzt gar nicht mehr zutrauen was er alles verbrochen hat. Doch dem Vergessen muss ganz entschieden vorgebeugt werden. Deshalb habe ich vor das allerhöchste der himmlischen Heerscharengerichte nun einen kurzen Filmbericht kommen lassen, in dem der Angeklagte –sozusagen „eingebunden“ – unfreiwillig die Hauptrolle spielen wird. Wir zapfen ganz einfach seine Erinnerungen an! Diese zeigen wir jedoch, von einem Projektor, auf das Wolkenweiß geworfen, aus der Sicht seiner Mitmenschen. Was der, sich insofern praktisch selbst Verurteilende dabei für Empfindungen haben wird, als er sich endlich erkennen muss, ist jedoch echt. Er wird die Ereignisse quasi noch einmal seitenverkehrt erleben!“

Während in der hohen Runde der allerhöchsten Himmlesgestalten alles beschaulich bleibt, hebt in und um Lottergraf Egon-Uwe Luzifer-Unhold-Egoist ein gewaltiger Sturm an. Der Zorn der Welt, dem er stets aus humanitären Gründen gegen sich selbst, erfolgreich ausgewichen ist, entlädt sich auf seiner Seele, einer Seele, die es vorzugsweise anderen überließ sich dem realen Treiben zu stellen, da sie nur die „Betrachtung und Beschreibung der Welt“ als ihre ureigenste Aufgabe ansah – nichts weiter. Was ihn jetzt be-trifft, sind die Folgen des Begehrens, die Mühsal der Ansprüche, sowie die Duldung einer Zeit, die, wie alle Zeiten scheinbar idiotisch und schwachsinnig ist, denn ausschließlich das göttliche Urteil regelt ihren Sinn!

Durch die entsetzlichen Traumerlebnisse bereits vorgeschwächt, wird der Lottergraf aufs Unsanfteste hin und hergeworfen! Endlich muss er einmal selbst ausbaden, was er bisher weitestgehend anderen überließ. Er muss schlagen und beißen, töten und getötet werden, sich untergeben, dienen und herrschen, um am Leben zu bleiben. Das ist kein Ponyhof!

Dabei werden ihm seine dichterische Halsschlagader, seine gestalterische Bauchaorta, ja sogar sein überhebliches Rühr-mich-nicht-an-Herz aus dem Leibe gerissen. Die anwesenden „Sachverständigen“ gebieten jedoch, aus Gründen der Wahrheitsfindung, dem Treiben keinen Einhalt. Und die höchsten der allerhöchsten Himmelsgestalten lächeln zufrieden, denn wer sich der Welt widersetzt, der wird vom Zweifel, oder, wie in diesem Fall, eben von den Fakten in der Luft zerrissen werden. Es ist wie es ist.

Obwohl es unablässig donnert und blitzt, obwohl die Schleudertraumen in Sekundenschnelle aufeinander folgen, dauert diese Form der Beweisführung den ganzen Tag und endet am Abend mit einer Art Belastungshöhepunkt, der seinen Ausdruck im orgiastischen End-Schrei des Angeklagten findet:

„Iiiiijjjaaaaahh!“

Dann bricht er beinahe besinnungslos zusammen. Vom Gerichtsdiener aufgesammelt und fortgetragen, bemerkt er nicht mehr, wohin man ihn bringt. Sein Glaube an ein irgendwo existierendes Irgendwas ist rückstandslos verschwunden. Er schließt die Augen – wie er immer die Augen vor dem heilenden Unheil verschloss – und schläft ein. Alles was er noch registrieren kann ist, das Tönen von Engelposaunen und danach den einsetzenden Chor aus reinen Geistern, die „gloria in exzelsis deo“ singen. Seine Augen sind inzwischen verdreht…

3. Akt, 2. Szene

Ein spätes Erwachen kennzeichnet das Zimmer, in der Psychiatrischen Klinik Graphenstedt, Kreis Wackelheim. Das Licht tritt nur gedämpft in den Raum. Der Patient darf nicht erschreckt werden, denn heute steht immerhin noch eine Schocktherapie im Programm.

Der Mann ohne Ausweis, ohne Identität, ohne Ehre und ohne Antriebe steht seufzend auf. Ihm ist, als ginge er zum Schafott, doch wie immer irrt er sich. Nur das Badezimmer wartet auf seine Reste. In den Spiegel guckt er erst gar nicht, denn darin erscheint, soviel weiß er noch, jeden Tag ein anderer. Einmal ist es Graf Dracula, dann ein durchsichtiges Glasgespenst mit Dornen-Lorbeer-Kranz, eine hämisch grinsende Visage, deren Muse ein abscheuliches Schlangenhaupt ist, oder einfach ein dümmlich dreinglotzender Kretin. Jeder dieser Anblicke stößt ihn ab!

Er versucht sich angestrengt zu erinnern: “Was habe ich getan? Wo kam ich denn eigentlich her? Wo wollte denn überhaupt hin? Wer bin ich und was soll ich hier?“ Aber der Spiegel, in den er nicht hineinzublicken wagt, kann ihm keine Auskunft geben.

Unerklärlich ist ihm die Schwere seiner Glieder. Es ist auch, als würde ihn ein fremdes, falsches Gefühl zu Boden ziehen. Und dann diese Anstalt – tägliche Schocktherapien, vorzügliches Essen, ohne daß er etwas dazu beigetragen hätte. Widersprüchlichkeiten die nur durch Widersprüchlichkeiten zu erklären wären, „aber nicht in diesen Sphären“ philosophiert er wahnsinnig vor sich hin.

„Der Abschaum der Menschheit besteht aus ihren Denkern“ grübelt er weiter. Nein, es fällt ihm einfach so ein, wie ihm immer alles einfach so eingefallen ist, erinnert er sich schwach. „Kann man sich vor Einfällen schützen?“ fragt er sich selbst. Aber dann müsste die Antwort ja „Nur, wenn man arm ist im Geiste“ lauten. Das darf nicht sein. Denn den Armen im Geiste wird der Erdkreis gehören. Oder hat er da etwas durcheinander gebracht? Denen, die keines guten Willens sind ist beschieden, was man Idioten zuschreibt, deren wichtigstes Anliegen es ist höhere Ordnungssysteme zu erschaffen. Wem steht das zu?

„Stehlen sie sich nicht ganz einfach aus dem Kreis echten, unverfälschten Seins? Wer gibt ihnen das Recht zu bezweifeln was unzweifelhaft existiert? „Es ist ein Vergehen wider die Schöpfung nach Lösungen zu suchen, welche geeignet sind die Evolution, respektive deren geplantes Ende zu verhindern!“

Stimmen? Stimmen! Niemand, der Mann ohne Identität, hat gerade Stimmen gehört! Kein Wunder also, daß man ihm Schocktherapien verordnet… Und zu allem Überfluss glaubt er sich jetzt auch noch an den allerhöchsten Richterspruch eines Allerhöchsten Himmlischen Heerscharengerichts zu erinnern, der ihm ebenso verrückt vorkommt wie er sich selbst. Er lautet: „In Anbetracht der Schwere der vom Angeklagten begangenen Verbrechen gegen die Unmenschlichkeit, sehe ich mich veranlasst die Höchststrafe – ein gewaltsames Leben – durch die Unvorhersehbarkeit eventueller Leidenssteigerungen zu überschreiten. Ich verhänge hiermit: Das Damoklesschwert! Möge es ihn treffen, wenn der richtige Augenblick gekommen ist!“

Niemand geht müde an seinen, ihm zugedachten, genehmigten Arbeitstisch. Doch bevor er ihn erreicht, um zu notieren, was die „Stimmen“ ihm einflüstern, oder zeichnerisch festhält, was er mit Hilfe von Muse Medusa halluziniert, erkennt er sie…! Die gesamte Zimmerdecke ist voll davon. Ein Damoklesschwert am andern lässt keine Zweifel darüber aufkommen, daß Auswegmöglichkeiten nicht existieren. Niemand bricht am Arbeitstisch zusammen! Das hat er erwartet, soweit musste es ja kommen: Unrecht, gegenüber dem Unrecht zieht weiteres Unrecht nach sich! Und das mit Recht!

Wie aus einer Wolke seiner Umnebelung hört Niemand erneut und ein letztes Mal die Stimme des Höchsten Richters des Allerhöchsten Gerichts der Himmlischen Heerscharen: „Angeklagter, nehmen sie das Urteil an?“ Dann öffnet er den Mund um ein völlig absurdes Unwort zu sagen, eines, das angesichts der überall herrschenden Umstände gar nicht vorkommen darf… Es lautet:

„Nein!“

Der Vorhang fällt!

©Alf Glocker

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