Seiten
ich es, aber er würde sich gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unfähig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zurückfahren. Allein — weißt du, was das ist?“ „Ja, kann er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?“ „Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich.“ „Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen.“ „Ja, das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben.“ Und wenn sie dann, rasch atmend unter seinen Küssen, noch vorbrachte: „Eigentlich kränkt es mich doch“, hielt er es wirklich für unverfänglich, dem Freund alles zu schreiben. „So bin ich und so hat er mich hinzunehmen“, sagte er sich, „Ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht für die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre, als ich es bin.“
Und tatsächlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: „Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluß aufgespart. Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum kennen dürftest. Es wird sich noch Gelegenheit finden, Dir Näheres über meine Braut mitzuteilen, heute genüge Dir, daß ich recht glücklich bin und daß sich in unserem gegenseitigen Verhältnis nur insoferne etwas geändert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gewöhnlichen Freundes einen glücklichen Freund haben wirst. Außerdem bekommst Du in meiner Braut, die Dich herzlich grüßen läßt, und die Dir nächstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was für einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiß, es hält Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück, wäre aber nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse über den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle ohne alle Rücksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung.“
Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten, der ihn im Vorübergehen von der Gasse aus gegrüßt hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden Lächeln geantwortet.
Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine Nötigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater ständig im Geschäft, das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein, abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben, doch saßen sie dann meistens, wenn nicht Georg, wie es am häufigsten geschah, mit Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte, noch ein Weilchen, jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer.
Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater saß beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschmückt war, und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.
„Ah, Georg!“ sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn — „mein Vater ist noch immer ein Riese“, sagte sich Georg.
„Hier ist es ja unerträglich dunkel“, sagte er dann.
„Ja, dunkel ist es schon“, antwortete der Vater.
„Das Fenster hast du auch geschlossen?“
„Ich habe es lieber so.“
„Es ist ja ganz warm draußen“, sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und setzte sich.
Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.
„Ich wollte dir eigentlich nur sagen,“ fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, „daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.“ Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.
„Wieso nach Petersburg?“ fragte der Vater.
„Meinem Freunde doch“, sagte Georg und suchte des Vaters Augen. — „Im Geschäft ist er doch ganz anders,“ dachte er, „wie er hier breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt.“
„Ja. Deinem Freunde“, sagte der Vater mit Betonung.
„Du weißt doch, Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist — das kann ich nicht hindern —, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren.“
„Und jetzt hast du es dir wieder anders überlegt?“ fragte der Vater, legte die große Zeitung auf den Fensterbord und auf die Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.
„Ja, jetzt habe ich es mir wieder überlegt. Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine glückliche Verlobung auch für ihn ein Glück. Und deshalb habe ich nicht mehr gezögert, es ihm anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es dir sagen.“
„Georg,“ sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die Breite, „hör’ einmal! Du bist wegen dieser Sache zu mir gekommen, um dich mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist ärger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufrühren, die nicht hierher gehören. Seit dem Tode unserer teueren Mutter sind gewisse unschöne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch für sie die Zeit und vielleicht kommt sie früher, als wir denken. Im Geschäft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen — ich will jetzt gar nicht die Annahme machen, daß es mir verborgen wird —, ich bin nicht mehr kräftig genug, mein Gedächtnis läßt nach, ich habe nicht mehr den Blick für alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod unseres Mütterchens viel
Seiten
Interpretation von Kafkas „Das Urteil“
Franz Kafkas „Das Urteil“ (1912) ist eine vielschichtige Erzählung, die die Beziehung zwischen einem jungen Mann und seinem dominanten Vater beleuchtet und tief in die Themen Schuld, Autorität, Selbstverleugnung und Untergang eintaucht. Es gilt als eines von Kafkas zentralen Werken und ist geprägt von kafkaesken Motiven wie der inneren Zerrissenheit, der rätselhaften Machtstrukturen und dem unerklärlichen Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Verpflichtungen.
1. Familiäre Strukturen und Konflikte
Im Zentrum der Erzählung steht die Beziehung zwischen Georg Bendemann und seinem Vater. Diese ist von einem komplexen Machtgefälle geprägt: Der Vater erscheint sowohl schwach und gebrechlich als auch überwältigend stark und autoritär. Dieser Gegensatz spiegelt Kafkas eigene ambivalente Beziehung zu seinem dominanten Vater Hermann Kafka wider, wie er sie in seinem berühmten Brief an den Vater schildert.
- Der Vater als Autorität: Der Vater wird von Georg zunächst als altersschwach und zurückgezogen wahrgenommen, doch im Verlauf der Erzählung offenbart er sich als allmächtige Instanz. Er erhebt sich buchstäblich aus dem Bett, um Georg zu konfrontieren und ihn zu verurteilen. Diese plötzliche Machtausübung zeigt, dass der Vater trotz seines Alters und seiner scheinbaren Schwäche eine unerschütterliche Autorität innehat.
- Georg als unterlegener Sohn: Georg versucht, sich durch seine geschäftlichen Erfolge und seine Verlobung von seinem Vater zu emanzipieren. Doch diese Versuche enden in Selbstzweifel und Scheitern. Die Beziehung wird von einer tiefen Schuld und einem unausgesprochenen, generationsübergreifenden Konflikt überschattet.
2. Schuld und Urteil
Der Titel „Das Urteil“ verweist auf die zentrale Thematik der Erzählung: die unausweichliche Verurteilung des Protagonisten. Der Vater verurteilt Georg „zum Tode des Ertrinkens“, ohne dass klar ist, worin genau Georgs Schuld besteht. Diese Schuld bleibt vage, was typisch für Kafkas Werke ist.
- Unbestimmte Schuld: Georg scheint sich gegenüber seinem Vater, seinem Freund und seiner Braut schuldig zu fühlen, ohne dass diese Schuld explizit benannt wird. Diese diffuse Schuld verweist auf ein existenzielles Thema, das in Kafkas Werk immer wieder auftaucht: die Unfähigkeit des Individuums, den Anforderungen der Gesellschaft, der Familie oder einer höheren Macht gerecht zu werden.
- Das Urteil als Willkür: Das Urteil des Vaters ist abrupt und unerbittlich. Es erinnert an die unverständliche Macht und Willkür, die Kafka in „Der Prozess“ beschreibt, wo Josef K. ebenfalls ohne klaren Grund verurteilt wird.
3. Freundschaft und Isolation
Die Beziehung zu dem Jugendfreund in Petersburg spielt eine zentrale Rolle, obwohl dieser Freund nur indirekt präsent ist. Georgs Briefe an den Freund und seine Entscheidung, ihm von seiner Verlobung zu erzählen, dienen als Katalysator für die Konfrontation mit dem Vater.
- Der Freund als Spiegel: Der Freund kann als eine Projektion von Georgs verdrängten Ängsten und Sehnsüchten interpretiert werden. Seine Isolation in der Fremde spiegelt Georgs eigene innere Isolation und seine Unsicherheit im Umgang mit seiner Umwelt wider.
- Der Freund als Ersatzsohn: Der Vater erhebt den Freund in Petersburg zu einem idealen Sohn, der Georgs Schwächen ausgleicht. Diese Umkehrung der Loyalität verstärkt Georgs Gefühl der Entfremdung und Schuld.
4. Vater-Sohn-Konflikt als zentrales Motiv
Der Konflikt zwischen Vater und Sohn ist ein wiederkehrendes Motiv in Kafkas Werk, besonders in „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ und dem „Brief an den Vater“. In allen Fällen wird der Sohn von einer übermächtigen Vaterfigur dominiert und scheitert an seinem Versuch, sich von dieser Autorität zu lösen.
- Parallelen zu „Die Verwandlung“: Wie Gregor Samsa in „Die Verwandlung“, der von seiner Familie ausgegrenzt und schließlich vernichtet wird, erlebt Georg Bendemann eine zunehmende Entfremdung und endet im Tod. Beide Geschichten zeigen die zerstörerische Macht familiärer Bindungen und die Unfähigkeit, aus diesen auszubrechen.
- Das Urteil als symbolischer Vater-Sohn-Konflikt: Der Konflikt kann als universelles Drama gelesen werden, das die Spannung zwischen individueller Freiheit und familiärer oder gesellschaftlicher Pflicht thematisiert.
5. Symbolik und Interpretation
Kafkas Erzählung ist reich an Symbolen, die auf verschiedene Interpretationen hinweisen:
- Das Wasser und der Tod: Georgs Tod durch Ertrinken symbolisiert sowohl die Reinigung von Schuld als auch die endgültige Unterwerfung unter das väterliche Urteil. Das Wasser kann als Übergang in eine andere Existenz oder als Flucht vor der unerträglichen Realität gedeutet werden.
- Der Freund in Petersburg: Die räumliche Distanz zu dem Freund steht für die emotionale und geistige Isolation Georgs. Der Freund könnte auch als Alter Ego Georgs gesehen werden, das seine Sehnsucht nach Unabhängigkeit verkörpert.
- Der Vater als göttliche Instanz: Der Vater wird im Verlauf der Erzählung zunehmend zu einer allmächtigen, fast göttlichen Figur, die Leben und Tod bestimmt. Diese Darstellung erinnert an die unbegreifliche Autorität, die Kafka in „Der Prozess“ und „Das Schloss“ thematisiert.
6. Fazit
„Das Urteil“ ist eine meisterhafte Darstellung von Konflikten zwischen Autorität und Freiheit, Schuld und Strafe sowie Individualität und sozialen Bindungen. Die Erzählung bleibt bewusst mehrdeutig und lädt zu zahlreichen Interpretationen ein, sei es als persönliche Aufarbeitung von Kafkas Vaterkonflikt, als existentialistisches Drama oder als symbolische Allegorie. Der plötzliche und scheinbar sinnlose Tod Georgs zeigt die kafkaeske Ohnmacht des Individuums gegenüber einer unbegreiflichen, übermächtigen Instanz, sei es die Familie, die Gesellschaft oder eine göttliche Autorität.