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Wort, aus jeder Triumph, Überraschung oder Ärger verratenden Geste. Aus der Art, wie jemand einen Stich aufnimmt, schließt er darauf, ob der Betreffende noch mehr Stiche in dieser Farbe machen kann. Ebenso erkennt er an der Weise, wie eine Karte auf den Tisch geworfen wird, ob jemand mogelt. Ein zufälliges unbedachtes Wort, das gelegentliche Fallenlassen oder Umwenden einer Karte, die Ängstlichkeit, einen so unbedeutenden Vorgang verbergen zu wollen, oder auch die Gleichgültigkeit dagegen, das Zählen der Stiche und die Art, sie zu ordnen, das verwirrte, zögernde, hastige oder übereifrige Wesen des Spielenden, alles muß ihm zum Erkennungszeichen dienen, das ihm den Stand der Dinge verrät. Er macht dabei den Eindruck, als erkenne er alles kraft einer Intuition. Wenn die ersten zwei oder drei Runden gespielt sind, dann weiß er genau, in welcher Hand die Karten sind, und er spielt seine eignen mit einer so absoluten Sicherheit aus, als ob sämtliche Mitspielenden ihm ihre zeigten.
Indessen darf man das Analysierungsvermögen keineswegs mit der Klugheit verwechseln, denn während der Analytiker unbedingt klug ist, haben doch oft recht kluge Leute nicht das geringste Talent zur Analyse. Die Kombinationsgabe, durch die sich die Klugheit gewöhnlich äußert und der die Phrenologen, wie ich glaube irrtümlich, ein besonderes Organ zugewiesen haben, da sie dieselbe für eine angeborene Fähigkeit halten, ist so häufig bei Menschen, deren Verstand fast an Blödsinn grenzt, wahrgenommen worden, daß die Tatsache die Aufmerksamkeit vieler Gelehrten auf sich gezogen hat. Zwischen Klugheit und analytischer Fähigkeit besteht aber ein Unterschied, der größer ist als der zwischen Phantasie und Einbildungskraft; indessen ist er von streng analogem Charakter. Man kann beinahe mit Sicherheit behaupten, daß die klugen Menschen stets phantasiereich und die mit wirklicher Einbildungskraft begabten stets Analytiker sind. –
Nachstehende Erzählung möge dem Leser als Kommentar dieser Behauptungen dienen.
Als ich mich im Frühling und während eines Teils des Sommers 18 . . in Paris aufhielt, machte ich die Bekanntschaft eines Herrn C. August Dupin. Dieser junge Mann gehörte einer sehr guten, ja sogar berühmten Familie an, die jedoch durch eine Reihe von Schicksalsschlägen in so tiefe Armut geraten war, daß die Energie seines Charakters darunter erlag, so daß er sich ganz von der Welt zurückgezogen hatte und keine Versuche mehr machte, sich in eine bessere Lage emporzuarbeiten. Seine Gläubiger waren so anständig gewesen, ihn im Besitz eines kleinen Restes seines väterlichen Vermögens zu lassen, dessen Zinsen bei äußerster Sparsamkeit zu einem sehr bescheidenen Leben hinreichten, ihm jedoch auch nicht den kleinsten Luxus gestatteten. Bücher waren das einzige, dem er nicht ganz zu entsagen vermochte – und diesen Luxus kann man sich in Paris ohne große Kosten leisten.
Wir begegneten uns zum erstenmal in einem obskuren Buchladen in der Rue Montmartre, wo der Zufall, daß wir beide dasselbe, übrigens sehr seltene und merkwürdige Buch suchten, uns in nähere Beziehung zueinander brachte. Von da an trafen wir uns zuweilen. Ich interessierte mich lebhaft für seine Familiengeschichte, die er mir mit der ganzen Aufrichtigkeit erzählte, in der der Franzose sich gefällt, wenn er von seinem eigenen Ich spricht. Sehr überrascht war ich von seiner ungeheuren Belesenheit, vor allem aber waren es die seltene Frische und Lebendigkeit seiner Phantasie, die mich interessierten und anregten. Da er dieselben Ziele verfolgte, um derentwillen ich mich in Paris aufhielt, fühlte ich, daß die Gesellschaft dieses Mannes für mich von unendlichem Wert sein könnte, und ich machte ihm gegenüber auch kein Hehl daraus. Wir machten also miteinander aus, daß wir, so lange mein Aufenthalt in Paris dauern würde, zusammen wohnen wollten. Da meine Vermögensverhältnisse besser waren als seine, so konnte ich es mir erlauben, für uns auf meine Kosten ein ziemlich vernachlässigtes und wunderlich aussehendes Häuschen zu mieten, das in einem abgelegenen, einsamen Teil des Faubourg St. Germain lag. Irgendeines Aberglaubens wegen, dem wir nicht weiter nachforschten, hatte es schon lange unbewohnt gestanden; ich richtete es in einem Stil ein, der der phantastischen Düsterkeit unserer gewöhnlichen Stimmung entsprach.
Hätte die Welt gewußt, welche Lebensweise wir in diesem Häuschen führten, so würde man uns wahrscheinlich für Wahnsinnige gehalten haben, wenn auch für sehr harmlose. Unsere Abgeschiedenheit war eine vollkommene. Wir nahmen keine Besuche an. Ich hatte meinen früheren Bekannten und Freunden überhaupt nichts von meinem Wohnungswechsel gesagt, und Dupin lebte schon seit vielen Jahren so einsam, daß ihn in Paris niemand mehr kannte. Wir lebten ganz allein für uns.
Es war eine Marotte meines Freundes – denn wie anders sollte ich es nennen? –, daß er in die Nacht um ihrer selbst willen verliebt war; wie alle seine Launen machte ich auch diese mit; ich ließ mich überhaupt ganz von ihm leiten und hieß alle seine bizarren Einfälle gut. Da die Göttin der Nacht nicht immer freiwillig bei uns hausen wollte, erdachten wir Mittel und Wege, uns Ersatz für ihre Gegenwart zu schaffen. Beim ersten Morgengrauen schlossen wir die sämtlichen starken Fensterläden unseres alten Hauses und steckten ein paar duftende Kerzen an, die nur schwache gespensterhafte Strahlen aussandten. Mit ihrer Hilfe wiegten wir die Seele in Träume – wir lasen, schrieben und unterhielten uns, bis die Uhr uns den Anbruch der wirklichen Dunkelheit verkündete. Dann eilten wir in die Straßen, wo wir Arm in Arm umherschlendernd die Gespräche des Tages fortsetzten, und oft streiften wir bis in die tiefe Nacht umher und suchten im grellen Licht und tiefen Schatten der volkreichen Stadt jene Unendlichkeit geistiger Anregung, die stummes Beobachten sich zu verschaffen weiß.
Bei solchen Gelegenheiten konnte ich nicht umhin, immer wieder Dupins eigenartige analytische Begabung zu bemerken und zu bewundern, obwohl mich sein reiches Geistesleben schon darauf vorbereitet hatte. Er schien auch mit großer Freude diese Gabe zu pflegen, wenngleich er niemals damit renommierte, und er gestand mir offen ein, daß sie für ihn eine Quelle manchen Genusses sei. Mit leisem Kichern rühmte er sich zuweilen, daß für ihn die meisten Menschen ein Fensterchen auf der Brust hätten, und er unterstützte derartige Behauptungen auf der Stelle durch geradezu verblüffende Beweise von seiner genauen Kenntnis meines eigenen Seelenlebens. In solchen Augenblicken war er kalt und geistesabwesend, seine Augen starrten ausdruckslos, und seine Stimme, die sonst einen weichen Tenorklang hatte, sprang
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Interpretation von Edgar Allan Poes „Der Doppelmord in der Rue Morgue“
Edgar Allan Poes 1841 veröffentlichte Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ gilt als ein Grundstein der modernen Detektivgeschichte. In ihr werden wesentliche Elemente eines Genres sichtbar, dessen Ausformung und Konventionen weit über das 19. Jahrhundert hinaus Bedeutung erlangten. Bereits die Verwendung eines genialen, deduktiv vorgehenden Ermittlers – Auguste Dupin – sowie das Moment des schier Unmöglichen, des von innen verriegelten Tatorts (Locked-Room-Mystery), prägen die narrative Struktur und die späteren Entwicklungen der Kriminalliteratur. Die Erzählung ist damit nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch ein programmatisches Werk, in dem Poe das rätselhafte Verbrechen als intellektuelles Spielfeld darstellt, auf dem sich die Macht der Logik gegenüber dem scheinbar Unbegreiflichen behaupten muss.
Rationalität vs. Schrecken und Sensation
Eine zentrale interpretative Spur liegt in Poes Gegenüberstellung von rationalem Denken und sensationsgieriger Faszination am Unheimlichen. Die Pariser Gesellschaft reagiert entsetzt und verwirrt auf den grausamen Mord an Mutter und Tochter, der sich in einem verschlossenen Zimmer im vierten Stock abspielt. Während die Öffentlichkeit – inklusive der Polizei – geneigt ist, sich in Gerüchten und vermeintlich übernatürlichen Erklärungen zu verlieren, setzt Dupin auf kühle, logische Analyse. Diese Haltung spiegelt Poes Skepsis gegenüber den rein emotionalen, irrlichtenden Reaktionen der Menge wider. Zugleich zeigt sich hier die aufklärerische Geisteshaltung, wonach auch die seltsamsten Phänomene mit scharfem Verstand verstanden, wenn nicht sogar restlos erklärt werden können. Der Durchbruch der Rationalität durch den Schleier des Makaberen wird zur intellektuellen Herausforderung, die über das bloße Erzählen von Schrecken hinausgeht.
Das Motiv der abgeschlossenen Räume (Locked-Room-Mystery)
Der vermeintlich „unmögliche“ Mord in einem verschlossenen Raum steht symbolisch für den hermetischen Raum der menschlichen Psyche oder des Geheimnisses selbst. Der Leser begegnet einer Situation, die zunächst alle konventionellen Erklärungsansätze sprengt. Das verschlossene Zimmer wird zum Sinnbild für Rätselhaftigkeit – und letztlich zur Bühne, auf der die Vernunft ihre Brillanz beweisen kann. Indem Dupin die Indizien ordnet, die Widersprüche der Zeugenaussagen erkennt und die Spur akribisch verfolgt, zeigt Poe, dass auch ein scheinbar übermenschliches Verbrechen durch folgerichtige Analyse entschlüsselt werden kann. Diese Idee ist zukunftsweisend: Das Locked-Room-Szenario wird später ein beliebtes Muster in der Detektivliteratur, ein Schauplatz, an dem der menschliche Verstand seine Überlegenheit über das Mysteriöse behauptet.
Die Rolle des Erzählers und die Figur Dupins
Bemerkenswert ist die Figur des Erzählers, der als enger Vertrauter Dupins fungiert, aber selbst keine eigenständigen Ermittlungen unternimmt. Er dient als Vermittler zwischen Dupins überlegenem Intellekt und der Leserschaft. Indem er staunend und bewundernd auf Dupin blickt, spiegelt er die Reaktion des Lesers. Gleichzeitig ist er der Repräsentant des „durchschnittlichen“ Menschen, der sich anfangs von der Unerklärlichkeit einschüchtern lässt. Dupins Analyse schlägt hier eine Brücke: Der Leser erhält die Möglichkeit, nachzuvollziehen, wie Verstand, Phantasie und methodisches Denken Schritt für Schritt zur Lösung führen. Dupin selbst ist kein Beamter, kein offizieller Ermittler, sondern eine Art Privatgelehrter, der sich dem Fall intellektuell nähert. Das stellt den Detektiv als gesellschaftlichen Außenseiter vor, der frei von bürokratischen Zwängen rein nach Logik und Intuition vorgeht – ein späteres Leitmotiv für viele Detektivfiguren der Literaturgeschichte.
Mensch und Tier, Zivilisation und Natur
Die schockierende Auflösung, dass kein menschlicher Täter, sondern ein entflohener Orang-Utan für die grausamen Morde verantwortlich ist, lässt sich als Kontrast zwischen Zivilisation und Natur deuten. Während die gesamten Ermittlungen davon ausgehen, dass ein Mensch die Morde begangen hat, enthüllt die Lösung eine andere, archaische Gewalt. Poes Erzählung spielt somit mit einer tief verwurzelten Furcht: dem Einbruch des Animalischen, Unkontrollierten in die geordnete, städtisch-zivilisierte Welt. Auch hier wird jedoch klar: So erschreckend und irrational die Tat des Tieres auf den ersten Blick erscheint, letztlich ist sie ein natürliches Ereignis. Es handelt sich nicht um ein übernatürliches Phänomen, sondern um eine Folge fehlgeleiteter Instinkte. Damit zeigt Poe, dass das Unheimliche nicht jenseits der Natur liegt, sondern im Unbekannten, im nicht Verstandenen der eigenen Wirklichkeit.
Fazit: Intellektuelle Kontrolle über das Geheimnis
„Der Doppelmord in der Rue Morgue“ kann als poetisches Manifest der Vernunft gelesen werden. Poe demonstriert, dass selbst das grausamste und scheinbar unauflösliche Rätsel logisch geklärt werden kann, sofern man sich der richtigen Methode bedient. Die Geschichte ist weniger an sozialer Gerechtigkeit oder moralischer Empörung interessiert, sondern an der Leistung des menschlichen Geistes, der in der Lage ist, aus einem scheinbar unlösbaren Geheimnis Sinn und Ordnung zu erschaffen. Damit legt Poe den Grundstein für das Detektivgenre, in dem Verbrechen nicht nur als moralischer Missstand, sondern als intellektuelle Herausforderung begriffen werden. Der erste Detektiv der Literatur, Dupin, zeigt, dass das Rätselhafte durch systematisches Denken und die richtige Perspektive entschlüsselt werden kann – ein Credo, das in zahlreichen späteren Kriminalerzählungen nachhallen wird.