Rotes Neonlicht

Bild von Naduschka Kalinina
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Du weißt nicht, wann du das letzte Mal so wütend warst. So müde, so genervt, so unglaublich von der Welt angekotzt. Niemand versteht dich, schon lange nicht mehr. Alle reden nur noch Scheiße. Jeder fühlt sich erleuchtet und so unfassbar geil. Das Leben ist eine einzige Party, auf der sich jeder hart selbst feiert. #gönnung. Du kannst es nicht mehr hören. Diese Selbstverliebtheit. Diese Egomanie. Manchmal weißt du nicht, ob es an der Welt liegt - oder an dir selbst. Bist vielleicht du das Problem? Sind nicht deine ganzen Mitmenschen Dummschwätzer, sondern du? Wobei, du sagst ja nie was. Und jemand, der seinen Mund hält, kann auch keine Scheiße quatschen. Einfache Faustregel.

Besonders Ankes Neuer nervt dich. Redet den meisten Mist, macht aus jeder kleinen Nummer ein übertriebenes Spektakel und kennt jeden und alles. Er studiert Jura, was er auch jedem, der es wissen will, und vor allem auch jedem, der es nicht wissen will, mindestens dreimal am Abend brühwarm erzählt. Sein Studium ist ja ach so schwer. Nur die Besten der Besten und haste nicht gehört. Dabei hat der Typ nur ein paar lausige Stunden Uni am Tag und bekommt von Mama und Papa sein überteuertes WG-Zimmer bezahlt. Beste Lage, coole Mitbewohner. Ankes Neuer hat noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet, will aber einem ständig das Leben erklären. Nur er hat den Durchblick. Nur er kann dies, nur er kann das. Rhabarber-Rhabarber.

So ein Dummschwätzer passt zu Anke. Nicht, dass du eifersüchtig bist. Klar, du hattest mal eine Weile was mit ihr, aber ey. Das Leben geht weiter. Sie wollte zu viel - du zu wenig. Außerdem ist Anke auch gar nicht mehr dein Typ. Sie war mal witzig und spontan, jetzt hat sie eine Instagram-Karriere am Start und braucht für das perfekte Foto mindestens neunzig Versuche. Ein Selfie mit ihr ist anstrengender als ein verdammter Triathlon. Außerdem ignoriert sie dich meistens, da sie viel zu sehr damit beschäftigt ist ihrem neuen Jura-Macker mit seiner blöden Hipster-Brille am Hals rumzulutschen. Mal ernsthaft, wie alt sind die? Zwölf? Scheinbar hat ihnen noch niemand gesagt, dass Knutschflecke ab Mitte zwanzig lächerlich sind.

Das ständige Geknutsche nervt dich, aber du sagst nichts. Du sagst nie was, denn Faustregeln sind nicht ohne Grund da. Wer nichts sagt, kann auch keine Scheiße reden. Du nippst gelangweilt an deinem Bier, als wäre es irgendein sauteurer Cocktail auf einer öden Strandparty. Die Bar ist wie immer voll und laut und die Musik kaum zu hören, so viel belangloses BLA-BLA-BLA hängt in der Luft. Alle reden. Niemand hört zu.

Ankes Neuer ist müde. Endlich. Er verabschiedet sich dramatisch, weil er ja noch so viel für die Uni machen muss. Weil sein Studium ja ach so hart und würg und kotz ist. Du würdest diesem Kerl so verflucht gerne in seine neunmalkluge Fresse treten. Anke folgt ihrem Hipster-Freund nach einem kurzen Tschüss in die Runde und lässt dich mit einem Haufen Menschen zurück, von denen du die meisten nicht kennst. Nicht wirklich. Der alte Kreis ist längst zerbrochen und anstatt der einst mal vertrauten Gesichter aus dem Kiez sitzen hier jetzt Erasmus-Studenten aus England, Frankreich und aus anderen Ecken der Welt. Die Franzosen reden meist Französisch und ignorieren alle, der Engländer ist ganz witzig und hat coole Kartentricks auf Lager. Niemand kennt den jeweils anderen, aber für ein paar super coole Party-Fotos reicht es aus. Du starrst in die fremden Gesichter der Studenten. Anke hat sie angeschleppt und als Freunde von der Uni vorgestellt. Natürlich. Seit Anke studiert und diesem neuen Jura-Macker den Hals ableckt, hat sie auch einen Haufen neuer Freunde. Coole Freunde. Nur du bist noch übrig vom alten Kern. Den Pappenheimer vom Kiez. Du und Wojciech, denn der Esel nennt sich stets zuerst.

Wojciech sitzt neben dir, wie jeden Abend belagert ihr zwei breitbeinig das Sofa. Manspreading in Bestform. Ihr zwei seid der Todfeind einer jeden Hardcore-Feministin. Wojciech schweigt, genau wie du. Er hält die Klappe, nippt am Bier und lässt die Studenten über ihr ach so stressiges Leben jammern. Wobei es ihm wirklich am Arsch vorbeigeht. Er ist cool mit sich selbst. Mit der Welt im Einklang. Du bist eifersüchtig. So unfassbar eifersüchtig.

Du arbeitest sechs Tage die Woche, Einzelhandel. Wenn du nicht gerade von einem Kunden beleidigt oder angeschrien wirst, weil irgendein gekauftes Elektrogerät scheiße, kaputt oder der Kunde einfach nur blöd im Hirn ist, musst du müde lächeln und so tun, als würdest du nach zehn Stunden ohne Pause noch Bock haben. Du bist immer der Idiot. Du bist der, auf den Eltern mahnend zeigen und ihren Kindern eintrichtern, sich in der Schule bloß anzustrengen, weil sie sonst eines Tages so enden wie du. Niemand will im Verkauf arbeiten. Niemand will mehr in den Service. In die Pflege. Es gibt zu wenig Fachkräfte. Es fehlt an Bauarbeiter, Handwerker und Müllmänner. Es fehlt an allem, nur sicher nicht an Anwälten, Grafikdesigner und Influencer.

Jeder studiert, aber niemand macht irgendwas. Du findest es zum Kotzen. Du brennst innerlich vor Eifersucht. Schau dir doch bloß diese coolen Studenten an. Waren alle erst kürzlich für ein paar Monate in Indien und Südamerika. Haben dies und das erreicht. Und du? Du hattest schon früh keinen Bock mehr. Selbst Schuld. Ohne Abitur läuft heute nichts. Du bist der Versager der Runde. Und alle wissen es.

Wojciech reicht dir sein halbvolles Bier. Du hast gar nicht gemerkt, dass dein eigenes bereits leer ist. Du hast an Luft genippt, wie ein echter Idiot. Im roten Neonlicht der Bar sieht Wojciech irgendwie anders aus. Kantiger. Gewagter. Dabei hat er ein rundes und nettes Gesicht. Er ist der ewig entspannte Kumpel. Dieser eine Freund, der irgendwie immer da ist, nie irgendwelches Drama veranstaltet und alles gelassen sieht. Dem man schon seit Jahren zwanzig Euro schuldet, aber nie was deswegen sagt. Wojciech ist die Ruhe in Person. Warm und vertraut. Die Stille, die du so dringend brauchst. Er hält dir immer noch sein Bier unter die Nase. Du winkst ab, stellst deine leere Flasche auf den Tisch und stehst auf.

«Muss mal pissen», brummst du niemand bestimmten zu und schlurfst zum Klo.

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Kommentare

01. Nov 2019

Sehr gerne gelesen !
HG Olaf

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