Rotes Neonlicht - Page 3

Bild von Naduschka Kalinina
Bibliothek

Seiten

zu durchschauen, dieses makabere Trauerspiel namens Alltag, dann kann man fast nicht anders als sich wie Marko vor einen Zug zu schmeißen. Marko. Der war so einer, ein Rebell. Ein Andersdenker, den die Welt gnadenlos überrollt hat.

Wojciech folgt schweigend deinem Blick. Mustert die Baukräne. Den aufgerissenen Boden. Was sie wohl mit den ganzen Bäumen gemacht haben? Sicher nicht umgepflanzt. So funktioniert diese Welt einfach nicht. Hier geht es um Kostensparen und Ego. Der Kiez, so wie du ihn kennst, ist eigentlich schon lange tot. Genau wie die alte Clique. Vergessen ist die Zeit der ewigen Freundschaften. Einer ist schon tot, andere sind spurlos verschwunden - oder abgehauen. Weiß der Teufel, was Nastja und Ivo heute so treiben. Nach Markos Tod ging eh alles den Bach runter.

«Ankes Neuer nervt ziemlich, huh?» Wojciech grinst dich schief an. Ihr wisst beide, dass das hier nur ein schwacher Versuch ist. Eigentlich geht ihm Ankes Neuer komplett am Arsch vorbei. Im Gegensatz zu dir ist Wojciech nicht verbittert. Oder zornig.

Du schweigst.

Wojciech schließt sich dir an. Ihr seid beide einfach keine begabten Redner. Schweigen könnt ihr aber wie echte Profis. Kein Ton ist zu hören. Dafür sind deine Gedanken umso lauter. Sie brüllen und toben. Brennen sich von innen nach außen. Wojciech hängt seinen eigenen Gedanken nach. Er legt den Kopf in den Nacken und sucht nach Sternen, die nicht da sind. Der Himmel über euch ist schwarz und leer.

«Heute ist Markos Geburtstag», sagt Wojciech plötzlich und schaut dich direkt an. Er weiß, dass du es weißt. Du denkst jedes Jahr daran und jedes Jahr bist du genau in dieser Nacht besonders unausstehlich. «Scheiße, er fehlt mir.»

Dir fehlt er auch. Dein Freund aus der Schule und dem Kiez, der einfach nicht mehr mit der Welt klar kam. Der auf Demos ging und die Welt verändern wollte, letztendlich aber scheiterte. Markos Worte waren in dieser Stadt voller sinnlosem Gerede unerhört und unverstanden untergegangen.

Du sagst immer noch nichts, als du die Baukräne anstarrst. Wojciech starrt mit dir, dicht neben dir stehend und die Klappe haltend. Vielleicht ist die Erwähnung von eurem toten Freund der Auslöser, vielleicht einfach nur deine Verzweiflung, aber im Endeffekt ist es auch egal. Es zählt nur, dass du Wojciech grob am Kragen seiner Jacke packst und deinen Mund auf seinen drückst. Es ist kein Kuss, nicht wirklich, eher ein wütender Versuch. Ein Versuch vor einem Trümmerfeld aus Erinnerungen und unfertiger Baugerüste. Wojciech drückt dich überrascht weg. Du versuchst es erneut, aber dieses Mal halten dich seine Hände auf, ehe dein Mund mit seinem kollidieren kann.

«Was?», fragst du aggressiv. Die Abweisung brennt, schmerzt und bringt das Feuer in dir zum Lodern. Du fühlst es dicht unter deiner Haut. «Ich dachte, du stehst auf Schwänze?»

Es ist kein Geheimnis, dass Wojciech Männer mag und verflucht nochmal, du bist einer. Egal, was dein Alter wegen deinen Weicheier-Gefühlen sagt. Wegen deinen Gedanken. Wegen deiner Angst vor diesem sonderbaren Leben. Aber du bist ganz eindeutig nicht die Art von Mann, die Wojciech bewusst wahrnimmt. Du siehst es in seinem Gesicht. In seinem runden, netten und völlig fassungslosem Gesicht. Er hat ganz eindeutig nicht mit so einem Scheiß gerechnet.

«Berlin.» Wojciech klingt wie jemand, der gerade eine Fliege verschluckt hat, die sich unangenehm in seiner Speiseröhre bewegt. Mehr sagt er nicht. Einfach nur deinen beschissenen Namen.

Du sagst überhaupt nichts, da du viel zu große Angst davor hast, hier und jetzt einen Haufen Scheiße von dir zu geben. Wojciech geht es scheinbar genauso, denn er starrt dich einfach nur an. Schließlich holt er tief Luft und klopft dir auf den Rücken. Wie ein Kumpel. Ganz unverfänglich und so, als hättest du ihm nicht gerade zweimal versucht die Zunge in den Hals zu stecken. Aber so ist Wojciech nun mal. Vergeben und vergessen. Kein böses Blut. Ziemlich sicher denkt er, dass du einfach nur besoffen bist. Neben der Spur. Immerhin hast du dich nie für Männer interessiert. Da waren immer nur Frauen gewesen. Frauen wie Anke, wobei selbst das nur ein liebloser Jugendfick war. Aber was spielt das überhaupt für eine Rolle? Mann. Frau. Nichts davon. Im Endeffekt ist es doch egal. Liebe ist Liebe.

«Komm schon», sagt Wojciech und grinst schief. Du kannst sehen, wie er mehrmals schluckt. Als hätte er plötzlich zu viel Spucke im Mund. «Lass uns zurückgehen. Gleich fängt das Karaoke an.»

Du hasst Karaoke, nickst aber. Du willst noch nicht nach Hause und weißt sonst nicht wohin mit dir. Schweigend geht ihr zurück. Am zerstörten Park vorbei in Richtung Polenladen, wo der weiße Lieferwagen so gut wie komplett ausgeräumt ist. Erneut ruft Wojciechs Cousin ihm etwas auf Polnisch zu. Erneut bekommt er den Mittelfinger gezeigt. Beim Spätkaufladen geht gerade das Gitter runter. Die Bar ist rappelvoll, aber euer alter Platz ist noch frei. Die Studenten sind immer noch da, wild auf Englisch am diskutieren und nicken euch kurz zu, als ihr euch wieder auf das Sofa fallen lasst. Breitbeinig, als wärt ihr nie weg gewesen. Als hättest du nie versucht deine Gefühle zu zeigen. Niemand hat euch vermisst. Ihr seid nichts weiter als zwei Gesichter im roten Neonlicht.

Eigentlich spielt nichts und niemand eine Rolle, wird dir klar, als dir irgendwer ein Bier reicht. Lauwarm, aber drauf geschissen. Es kostet nichts. Wojciech sitzt dicht neben dir, eure Beine und Hände berühren sich immer wieder, aber keiner rückt vom anderen weg. Irgendwann streichen seine Finger über deine linke Hand. Über deinen Handrücken. Wojciech streichelt dich, langsam und vorsichtig und genau so, wie du es dringend brauchst, während sich eine Karaoke-Gruppe nach der anderen auf der Bühne zum Affen macht. Gelächter bricht um euch herum aus und Wojciech grinst dich im Neonlicht schief an.

Seine Finger zittern. Er ist nervös, wird dir klar. Er hat dich da draußen abgewiesen, vor dem alten Park, aber hier im roten Licht mustert er dich aufmerksam. Vielleicht, nur vielleicht, erinnerst du ihn hier auf dem Sofa an Marko. Euer Freund hatte braunes Haar, deines ist rabenschwarz. Aber drauf geschissen, denn im roten Neonlicht wirken alle Farben gleich. Du hast deine Haare zudem etwas wachsen lassen, statt sie wie sonst bis auf wenige Millimeter abzurasieren. Sauber gegelt, genau wie es Marko immer trug. Es steht dir, sagen alle. Selbst dein Alter, dem du es sonst nie recht machen kannst.

Ja, vielleicht liegt es nur am roten Neonlicht, am Glühen und Glimmen der Bar, dass Wojciech deine Nähe sucht. Dass er dich anstarrt, dass seine Finger zittern und sein ganzer Körper vor Anspannung vibriert. Du hast beim alten Park vielleicht eine Abfuhr kassiert, aber gleichzeitig auch etwas ins Rollen gebracht. Wojciech denkt über dich nach. Du siehst es in seinem Gesicht, dass im roten Neonlicht ebenfalls anders und fast schon fremd wirkt. Du bist es Leid zu warten und stellst dein Bier auf den Tisch. Du gehst ohne ein Wort zu irgendwem in Richtung Klo. Du musst dieses Mal nicht pissen, also wartest du einfach. Mit dem Rücken gegen eine der Kabinen gelehnt. Zum zweiten Mal in dieser Nacht folgt dir Wojciech.

Niemand spricht, als er dein Gesicht in beide Hände nimmt und es so aufmerksam mustert, als würde er es tatsächlich zum ersten Mal sehen. Als würde er zum ersten Mal verstehen, dass auch ein Schatten einen Schatten haben kann. Ihr tanzt schon eine Weile umeinander herum, ohne euch jemals wirklich bewegt zu haben. Ihr beide wollt und braucht etwas, was niemand so wirklich in Worte fassen kann. Vor allem ihr zwei nicht, ihr elendigen Schweiger. Auf dem Klo gibt es kein rotes Neonlicht, dafür ein schwammiges und blasses Leuchten. Du hast Angst, dass der Zauber nachlässt, dass deine neue Frisur und die Ähnlichkeit mit Marko letztendlich doch nicht ausreicht, aber Wojciech lässt dein Gesicht nicht los. Im Gegenteil.

Wojciechs Kuss ist anders als deiner. Weniger aggressiv. Es ist kein zorniger Versuch sich mitzuteilen, sondern ein gut gezielter Schuss. Seine Hände liegen immer noch an deinem Gesicht und schieben sich langsam über deine pochenden Schläfen in dein Haar. Es ist klebrig vor Gel, vielleicht steht dir Markos Frisur doch nicht so gut wie alle sagen, aber es scheint Wojciech nicht zu stören. Er küsst mit offenem Mund, während er dich fester gegen die Kabine drückt. Keiner sagt ein Wort. Deine eigenen Hände ruhen planlos auf seinem Rücken, während Wojciech deinen Hals küsst. Er saugt nicht, beißt nicht, sondern weiß, dass ein Knutschfleck ab Mitte zwanzig albern ist. Ihr seid euch so nah, dass ihr keine zwei Personen, sondern nur noch eine seid. Ein geteilter Herzschlag, irgendwo zwischen Karaoke-Musik und lautem Applaus.

Du weißt, dass du nicht Marko bist. Du weißt, dass das auch Wojciech weiß. Du bist nicht euer strahlender Freund mit der lauten Lache, der sich in der Nacht zu seinem 21. Geburtstag umgebracht hat. Du bist nicht der schöne Marko, der euch beiden so viel bedeutet hat, nur um dann mit einem Knall zu gehen. Du bist Berlin. Du bist absolut planlos, was du mit deinen Händen machen sollst, also schiebst du sie Wojciech einfach in die Hose. Ein Kinderspiel, da er wie immer Jogginghose trägt. Du würdest eher sterben als mit Jogginghose aus dem Haus zu gehen, du bist immerhin mit albanischer Eitelkeit erzogen worden, aber zu Wojciech passt es. Zu seiner warmen Gemütlichkeit. Dein Tun ist absolut richtig, denn Wojciech gibt ein lautes Schnaufen von sich und drückt sich deiner Hand entgegen. In Männerunterhosen kennst du dich aus, auch wenn es sonst nur deine eigenen sind. Du zeigst Wojciech stumm, was da schon länger in dir kocht und raucht und einfach nur raus-raus-RAUS will. Er kommt dir mit seiner eigenen Hand und seinem Mund entgegen. Ihr macht es langsam, ihr macht es schweigend. Ihr habt alle Zeit der Welt.

Zumindest heute Nacht.

Seiten

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: