Seiten
Hinter dir brechen die Franzosen in Gelächter aus. Sogar das Gelächter klingt cool. Ein Kerl steht vor einem Urinal, der mit einer Hand lieblos zielt und mit der anderen in Blitzgeschwindigkeit Dating-Profile nach links und rechts wischt. Willkommen im 21. Jahrhundert.
Du beziehst gut einen Meter weiter Aufstellung und pinkelst dir die Seele aus dem Leib. Zumindest fühlt es sich so an. Dabei starrst du leicht in Richtung Deckenbeleuchtung, die dich immer an die trüben Lichter eines UFOs erinnern und denkst über den Sinn und Unsinn des Lebens nach.
«Alter, alles klar?»
Du verziehst das Gesicht. Nicht, weil du etwas gegen Wojciech hast, nun wirklich nicht, sondern weil du es verabscheust, wenn dich irgendwer Alter nennt. Aber so wirkst du eben auf andere. Du bist der Kerl, den andere ALTER nennen - oder Bro. Mit dir kann man was trinken gehen, danach noch etwas im Park abhängen und Frauen schlecht von der Seite anmachen. Du bist der raue Kumpel, der ordentlich austeilen kann. Du bist der, den alle akzeptieren, aber niemand so wirklich mag. Mit dir redet kein Mensch über Gefühle. Dich berührt niemand vorsichtig. Du bist der, der kumpelhaft geboxt wird. Der seinen Mann steht.
Aber scheiße, du stirbst fast, so viele Gefühle hast du in dir. So sehr sehnst du dich nach zarten Berührungen. Du spielst verzweifelt Tetris mit all der Wut, Eifersucht und Liebe und dennoch wird es langsam eng. Du hast sogar ein bisschen Angst. Ach was, ein bisschen? Du scheißt dich fast ein. Wojciech kommt langsam näher. Du hörst seine Schuhe. Das Rascheln seiner Kleidung.
«Was?», fragst du monoton. «Bist du neuerdings ein Spanner?»
Wojciech lacht. Er hat ein heiseres Lachen.
«Rede keine Scheiße, Mann», sagt er. «Als gäbe es hier was zu sehen.»
Er grinst von einem Ohr zum anderen, wobei das Grinsen schlagartig stirbt, kaum sieht er deinen Gesichtsausdruck.
«Ich rede niemals Scheiße», sagst du. «Niemals.»
Wojciech schweigt. Er weiß, dass du niemals Scheiße redest. Er weiß auch, dass du weißt, dass er sehr wohl ein Spanner ist. Irgendwie, zumindest. Er folgt dir die letzte Zeit verflucht oft auf die Toilette. Er spricht nie mit dir, aber wenn, dann grundsätzlich dann, wenn du mit offener Hose dastehst. Sicher machen sich die coolen Studenten gerade über euch lustig. Die zwei Loser, die zusammen auf Toilette gehen. Aber Wojciech macht sich Sorgen um dich. Er ahnt, was mit dir los ist. Zumindest heute, in dieser verdammten Nacht.
Du hast schon länger das Gefühl, dass dir Wojciech folgt. Wie ein Schatten, der immer da ist. Immer neben dir sitzt. Du erkennst die Zeichen, denn du bist selbst ein Schatten. Nur, dass Wojciech dich im Auge behält, ohne dich wirklich wahrzunehmen. Du bewegst dich knapp unter seinem Radar.
«Ich mache mir Sorgen um dich, Berlin.»
Endlich. Dein Name. Kein Alter, kein Dude. Einfach nur dein Name. Klar, dein Name ist nicht sonderlich geil, denn mal ehrlich. Berlin? IN BERLIN? Das ist einfach zu viel des Guten. Berlin aus Berlin. Du bist ein wandelnder Lacher. Wobei, manchmal passt dein Name. Manchmal fühlst du dich wie diese verdammte Stadt. Alle erwarten Party und Skandale, aber unter all diesem Neonlicht bist du abgefeiert und grau.
«Lass uns ne’ Runde um den Block drehen», schlägt Wojciech vor. Er weiß, dass du immer dann pinkeln gehst, wenn dir alles zu viel wird. Wenn du Ruhe brauchst. Bewegung, um den Kopf frei zu bekommen.
Ihr verabschiedet euch nicht von den anderen. Wieso auch? Die Franzosen sind mit sich selbst beschäftigt und die anderen reden auf Englisch über Uni-Zeug, von dem du keine Ahnung hast. Draußen auf der Straße schweigt ihr. Eure Redseligkeit ist längst verflogen. Euer Bedürfnis nach Kommunikation ist in der Bar zurückgeblieben. Ihr geht im Gleichschritt, die Hände tief in die Taschen eurer Jacken vergraben.
Du kennst jede Straße und jedes Haus. Das hier ist immerhin dein Kiez, dein Revier, auch wenn sich vieles verändert hat. Dort drüben war früher einmal ein Waschsalon. Jetzt ist dort eine Shisha Bar, in der fast nur 17jährige Mädels mit geglätteten Haaren und falschen Fingernägeln abhängen, die ständig «Ich schwör, ey!» sagen und sich für den besten Fick aller Zeiten halten. Ein paar Meter weiter ist der Spätkaufladen vom alten Said, der seine ganzen Einnahmen in Glücksspiele steckt und nie irgendwas gewinnt. Beim kleinen Polenladen an der Ecke herrscht Hochbetrieb. Nächtliche Anlieferung. Ein weißer Transporter steht halb auf dem Gehweg, halb auf der Straße und wird von zwei Männern in Lichtgeschwindigkeit ausgeladen. Wojciech nickt einem der Kerle zu, der ihm daraufhin etwas auf Polnisch zuruft. Wojciech lacht und zeigt dem Mann den Mittelfinger.
«Mein Cousin», erklärt er dir. Du nickst und tust so, als wäre das völlig klar. Dabei sehen die zwei sich überhaupt nicht ähnlich. Wojciech ist eher groß und breit, gemütlich veranlagt mit einem netten Gesicht, während der Mann beim Lieferwagen irgendwie giftig wirkt. Hager, flink und mit einer Nase, die Augen ausstechen kann. Aber was weißt du schon von Genetik? Dein Bruder sieht aus wie die Wiedergeburt von James Dean, während du die finstere Visage von deinem Alten hast. Du hast einen Gesichtsausdruck, der Bände spricht. Bei dir drehen sich Frauen besorgt um, wenn du zu lange hinter ihnen gehst.
Und du bist es Leid. So unfassbar Leid. Du bist müde und traurig und scheiße, verdammt, irgendwie ernsthaft depressiv. Alles fühlt sich nutzlos an. Unfertig. Du willst nichts mehr, als einfach mal zu heulen. Stundenlang. Dein Alter meint immer, du sollst dich zusammenreißen. Deinen Mann stehen. Aber du willst nicht deinen Mann stehen, sondern flennen wie ein Kleinkind. Du willst dich in deine Bettdecke einrollen, wie ein verdammter Burrito, und nie wieder irgendwas hören oder sehen. An Nächten wie diesen fühlst du dich zerbrechlich.
Ihr landet beim alten Park. Dort, wo einmal Bäume standen, stehen jetzt Baukräne. Hier soll ein Wohnhaus entstehen. Angeblich. Im Endeffekt werden es immer billige Motels, die keiner haben will. Diese Stadt braucht keine Motels. Ebenso wenig wie tausend neue Anwälte und abertausende Jura-Studenten, die einem das Leben erklären. Dieser Ort hier braucht Wohnungen. Bezahlbare. Faire Arbeit. Leute, die nicht liken, sondern mal ernsthaft nachdenken. Etwas verändern. Wenn man nämlich erst einmal damit anfängt, diese ganze Scheiße