Von unerwarteten Freiheiten und unverrückbaren Regeln bei Haikus

17. September 2015

Da saß ich nun – meine ersten Haiku frisch in die Tastatur meines Laptops getippt – um sie gleich darauf mit zweifelndem Blick und entschlossenem Fingerdruck wieder ins Nichts zu entlassen.

von Corinna Herntier
Haiku im Sand
"bunt", wie die Haiku selbst ...
© Ciaobucarest

In den vergangenen Jahren hatte ich die Haiku „kategorisch ignoriert“. Ich habe sie – zugegeben – sogar belächelt und für zu einfach gehalten! Was kann an so kurzen Gedichten Kunst sein? Die müssen sich anscheinend noch nicht einmal reimen?! Pah!

Schnell bemerkte ich die gleiche Silbenzahl 5 – 7 – 5 und hielt das für die einzige, „lächerliche“  Regel eines Haiku.

Was soll ich sagen? Ich wurde eines Besseren belehrt.

Mein Interesse am Schreiben dieser Kurzgedichte japanischen Ursprungs wurde durch Zufall geweckt – und da ich den Dingen immer gerne auf den Grund gehe, tauchte ich in die Tiefen des Internets ein und las auf der Seite der Deutschen Haiku-Gesellschaft, auf Wikipedia, „Ziemlichkraus“ und „Haiku heute“ Texte zu diesem Thema.

Und war verwirrt. Gründlich!

Die Meinungen darüber, was ein gutes Haiku ausmacht, gehen weit auseinander!

Die Deutsche Haiku-Gesellschaft, beispielsweise, zitiert den (kürzlich verstorbenen) Schriftsteller Hans Stilett, der sich für die Silben-Regelung aussprach:

 „Die formale Limitierung könne nur den kleinen Geist beengen, für den großen Künstler sei sie eine zusätzliche Forderung, ein ästhetischer Reiz, denn er hätte so viel zu sagen, dass er die Form als Bereicherung empfände, die ein Zerfließen des Kunstwerkes verhindere.“

Weiter heißt es im Text der Deutschen Haiku-Gesellschaft:

Einspruch gegen eine formale Adaption erhob K. Hülsmann. Einerseits sei es nicht möglich, die sogenannten Regeln auf eine völlig anders strukturierte Sprache zu übertragen, und zweitens gäbe es keine grundsätzlichen Regeln. Im Wort „grundsätzlich“ läge der Unterschied zwischen europäischem und asiatischem Denken schlechthin. Bei uns bestünde stets etwas „Grundsätzliches“; diese Haltung sei den Japanern fremd. Im Übrigen zeigten die Tendenzen der modernen japanischen Haiku-Dichtung formale Variabilität. In einer zusammenfassenden Stellungnahme einigte sich die Diskussionsrunde darauf, dass Kürze, Prägnanz, Bildlichkeit und die Übermittlung eines verborgenen Sinns verbindliche Kriterien für ein mögliches deutschsprachiges Haiku seien.“

Na, Letzteres klang für mich schon einmal sehr sympathisch!

Ich entschloss mich, danach zu gehen, was mir und meinen Wünschen am ehesten entspricht - natürlich unter Berücksichtigung der (dennoch) vorhandenen Regeln. Das muss man sich erst einmal trauen (!), denn mit kritischen Kommentaren à la „Das ist kein Haiku, denn es sind nicht in der ersten Zeile fünf, in der zweiten sieben und in der dritten Zeile wieder fünf Silben vorhanden“ muss man rechnen!

Gut, aber zunächst die Regeln (Quellen: „Deutsche Haiku-Gesellschaft“, „Wikipedia“ und „Ziemlichkraus“)

  • Ein Haiku ist unbetitelt (Da weiß ich ja jetzt, was ich zu tun habe …)
  • Im Präsens geschrieben
  • Wenn man ein traditionelles Haiku schreiben möchte, soll es ein Naturgedicht sein - insbesondere im Zusammenhang mit Jahreszeiten („soll“ heißt nicht „muss“ - wenn es passt …)
  • Keine inneren Monologe
  • Keine Selbstbeschau
  • Keine allgemeinen Statements zur Lage der Welt
  • Keine Wortspielereien
  • Konkret bleiben
  • Einen Augenblick beschreiben
  • Den dabei gewonnenen Sinneseindruck mitteilen, aber …
  • … nicht kommentieren!
  • Dem Leser überlassen, mit seinen Gefühlen und Assoziationen das Gedicht zu entfalten.
  • Der Schreiber des Haiku sollte bestrebt sein, im Hintergrund zu bleiben, wegzulassen und lieber etwas nicht zu sagen, damit der Leser die vom ihm hervorgebrachte „Knospe“ zur Entfaltung bringen kann.

Ja! Das war es - das imponierte mir und leuchtete mir ein – und genau das ist die große Herausforderung, die schwierige Aufgabe, die mir das Haiku-Schreiben jetzt stellt!

Mich sprachen besonders die Freiheiten in dieser Dichtung an:

  • Ein Haiku ist außerhalb Japans meist ein Drei-Zeiler.  Muss es aber nicht sein!
  • Es muss nicht, sondern darf von Natur handeln.
  • Die Silbenzahl ist flexibel.

Nanu!? Ich staunte, als ich las, dass japanische Lautsilben („Moren“) im Gegensatz zu deutschen Silben immer einer gleichen Zeiteinheit entsprechen. Darum dürfen deutsche Haiku mit weniger als siebzehn Silben auskommen! (Empfohlen 13 – 19 Silben) Während beispielsweise das Wort „schlaucht“ eine einzige Silbe enthält,  besteht dagegen „Lilien“ aus drei Silben!

Im Japanischen sieht es beispielsweise dagegen so aus:

Nippon wa (= drei deutsche Silben) ist die erste Zeile eines Haiku und besteht aus fünf Moren wie folgt:

Hiragana

Rōmaji

Ni

p

po

n

wa

Das beweist die „hinkende“ Übersetzung der Regel 5 – 7 – 5.

Trotzdem ist zum anfänglichen Üben des Haiku-Schreibens die 5 – 7 – 5-Regel „erlaubt“, da hilfreich.

Aber dann …

Dann kommen Freiheit, Weite und Selbstständigkeit!

(Die auch verunsichern können – stimmt).

Klar, es ist einfacher, Regeln genau zu befolgen und sich artig an ihren Forderungen „entlangzuhangeln“. Ich bevorzuge jedoch den einzigen Anspruch, am Ende aller Mühen ein Haiku geschrieben zu haben, das unprätentiös daher kommt und den Leser (s)eine Geschichte daraus entwickeln lässt.

Das soll nicht heißen, dass ich glaube, dieses zu können! Nein. Ich fange ja erst an - ich entdecke, ich wage mich zaghaft vor und probiere aus.

Mich haben einige Haiku sehr beeindruckt – es kommt eben auf den Inhalt an, auf die Initialzündung, die sie auslösen. Das strebe ich an und hoffe, irgendwann (bald?) solche Gedichte entwickeln zu können.

Und das sind meine Favoriten:

die Stimme des Sängers im Radio
- Jahre nach seinem Selbstmord 

© Hans-Peter Kraus („Ziemlichkraus“)

Foyer im Pflegeheim
die alte Uhr
stehen geblieben  

© Marita Bagdahn („Haiku heute“)

Halloween
die Geister poltern
in Kinderschuhen 

© Christa Beau („Haiku heute“)

Beim Schlüsseldienst
Luigi erzählt mir
von der Sonne Siziliens 

©Andreas Marquardt („Haiku heute“)

kein Strafzettel
Herbstblätter 

©Martin Berner („Haiku heute“)

irgendwo Musik
dem alten Quadrille-Hengst
zucken die Ohren 

© Eckhard Erxleben („Haiku heute“)

Sind die nicht gelungen? Na, dann mache ich mich auch mal wieder ans Werk! Viel Freude beim Experimentieren mit dem Haiku.

Corinna Herntier

Kommentare

27. Feb 2017

Stark geschrieben! Höchst informativ:
Beim Haiku - liegt wohl mancher schief ...
Wer steif und schwer nur Silben (k)glaubt -
Leicht Seele solch Gedichten raubt ...

LG Axel

17. Sep 2015

Wirklich sehr interessante Informationen!
L.G. Angélique

18. Sep 2015

Interessant!
Vielen Dank dafür!

08. Apr 2016

Ein sehr interessanter Artikel. Ich habe nämlich bisher auch immer einen Bogen um die Haiku gemacht, weil sich der Sinn mir nicht ganz erschlossen hat. Vielen Dank.

LG, Susanna

04. Mär 2017

Danke! Habe viel dazu gelernt. Kein Titel, in der Gegenwart bleiben, Naturgedicht, dem Leser die Auslegung überlassen. Ich empfinde allerdings die Befolgung der Silbenvorschrift 5-7-5 als sinnvoll und keinesfalls als "simpel" (im Gegenteil), weil man zur Beschränkung gezwungen wird und bleibe (vielleicht) auch dabei, denn ganz ohne kann es beliebig werden.
Liebe Grüße Marie

04. Mär 2017

Aufschlussreich. Jedoch reizte mich unter anderem die 5 - 7 - 5 Silbenvorschrift. Eine KUNST, sich zu beschränken und dennoch einen aussagkräftigen Text zu gestalten.
LG Monika

04. Mär 2017

Ich habe (übersetzte) von Japanern geschriebene Heiku gelesen, da wird nicht ausschließlich Natur bedichtet. Bin gespannt auf weitere Diskussionsbeiträge.
LG Marie

12. Aug 2017

Da liegt noch Arbeit vor mir ...!

Liebe Grüße
Soléa