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zählte sie zu den Todsünden der Menschheit. Schließlich wurde man nicht geboren, um Zeit zu verplempern. Jede Minute sei kostbar und könne über Leben und Tod entscheiden. Das sei das Allererste gewesen, das sie in diesem hektischen Betrieb habe lernen müssen, hatte sie uns anvertraut. Wir waren einmütig zu dem Schluss gelangt, dass unsere tyrannische Karbolmaus gewaltig übertrieb.
Melanie, eine meiner Schicksalsgefährtinnen, die sich auf der Fieberpritsche links neben mir flegelte, hegte die Vermutung, Wilma habe höllische Angst davor, dass die Zeit irgendwann einmal ein Ende nehmen könnte, stehen bleiben oder einfach wegsterben – wie der Mensch, und dann säße man da und wisse nicht weiter ... oder, was noch tausendmal schlimmer wäre, man könne gar nicht weiter, selbst wenn man wollte.
„Oder das Leben fängt danach erst richtig an“, wandte ich begeistert ein und vergaß für zwei Minuten Hof Lachau und mein Herzeleid.
„Stellt euch nur mal vor, wir kämen ganz ohne Schlaf aus! Das ist reine Gewohnheitssache! Die Nacht würde per Gesetz abgeschafft!“
Melanie lächelte saumselig, aber Miriam fauchte verärgert: „Hör sofort auf damit, Christine! Du spinnst!“ –
Was Wissenschaftler in der gewonnenen Zeit (die ja überhaupt nicht daran denkt, stehen zu bleiben, im Gegenteil: eher hustet sie uns was) alles herausfänden, spann ich lautlos aber unbeirrt den Faden weiter, was Erfinder ausbrüteten, wie viele Bücher es dann auf der weiten Welt gäbe (Katja käme aus dem Lesen gar nicht mehr heraus). Die Geschäfte wären rund um die Uhr geöffnet; die Straßen erstrahlten heller als der lichte Tag, und um den Sternenhimmel genießen zu können, müsste man weit hinaus aufs Land fahren, in ein Dorf ohne Kunstlicht – und hoffentlich keinen Eintritt dafür bezahlen, fuhr es mir sogleich durch den Kopf, weil ich mir mühelos vorstellen konnte, dass skrupellose Geschäftemacher „in Sachen Sternenhimmel“ wie Pilze aus dem Boden schössen. –
„Aber falls die Zeit tatsächlich einmal stehen bliebe und wir bekämen irgendeine Krankheit, dann könnten wir nie wieder gesunden, denn das braucht seine Zeit“, gab Melanie mit verzagt klingender Stimme zu bedenken.
„Unsinn!“, mischte sich Miriam ein: „Es braucht schließlich auch seine Zeit, um krank zu werden. Und überhaupt, was für ein überflüssiges Thema! Wenn die Zeit stehen bleibt, geht die Welt unter. Und für den einzelnen Menschen bleibt die Zeit stehen, sobald sein Herz aufgehört hat zu schlagen ... wenn er stirbt. Der Volksmund sagt dazu: Seine Zeit ist abgelaufen oder: Er hat das Zeitliche gesegnet. Basta!“
Darüber schwiegen wir eine Weile. Melanie starrte mit angespannter Miene auf ihren schneeweißen Bettbezug, als brauten sich dort geheime Zeichen zusammen, die mit einer eidesstattlichen Erklärung „in Sachen Weltuntergang und Nachtdemontage“ Licht in das Dunkel brächten und unsere Fiktionen entweder bestätigten oder als puren Unsinn verwarfen.
Obwohl mich Miriams drastischer Kommentar überzeugt hatte, betrachtete ich mit gemischten Gefühlen mein untaugliches Bein und stellte mir vor, die Zeit bliebe aller Logik zum Trotz einfach stehen, die Welt jedoch existierte unbeirrbar weiter – völlig unabhängig von Zeit und Raum (und ich würde dieses angeschmuddelte Monstrum nie wieder los); – aber besteht die Welt nicht seit eh und je aus Zeit und Raum? Hauptsächlich aus Zeit und Raum - und dann kommt eine ganze Weile erst einmal gar nichts ...? – Wir Menschen sind jedenfalls nicht die Welt, obwohl sich manche dafür halten.
Nein, ich würde nicht für immer und ewig an Krücken laufen müssen, nicht zur Salzsäule erstarren ... die Welt, sie steht und hält ja nach wie vor still in der flüchtigen Zeit (obgleich Inseln von heute auf morgen verschwinden und neue geboren werden und die Erde pausenlos ihre elliptische Bahn zieht) und lässt sich (fast) alles gefallen – noch! – Was für verrückte Sachen einem durch den Kopf geistern, wenn man sich wie scheintot fühlt!
Wilma nahm mit eisiger Miene unsere Betten ins Visier. „Steht jetzt endlich auf, ihr Trantüten! Eure Miefkojen müssen für die Visite hergerichtet werden. Noch vor dem Frühstück! Und haltet ja eure Kauwerkzeuge unter Kontrolle!“, donnerte sie in meine erhabenen Gedanken. Mir kam nicht der geringste Zweifel, dass sie beim „Sightseeing“, wie wir die Ärztevisite getauft hatten, nach jedem Krümel fahnden würde. Unser Stationsdrache strebte offenbar keimfreie Laken an.
„Auf der Stelle verlasst ihr jetzt eure Betten, ihr, ihr ... dummen Schnarchgänse!“, fauchte Wilma wutentbrannt, nachdem sich keines der Mädchen vom Fleck gerührt hatte. Ich ahnte, weshalb sie derart in Rage war: Vor dreieinhalb Stunden hatten die Sanis vom Rettungsdienst fünf Schwerverletzte auf ihre „Innere“ transportiert, weil auf der Unfallstation nebenan kein einziges Bett mehr frei war.
Auf der Autobahn, gleich hinter dem Bremer Kreuz, hatte sich im Morgengrauen ein schwerer Verkehrsunfall ereignet. Ein betrunkener junger Mann war während eines Überholmanövers mit dem Sportwagen seines Vaters in einen Mercedes gerast. Das Fahrzeug war über die Leitplanke auf ein Feld geschleudert worden, wo es fast völlig zerstört auf dem Verdeck liegen blieb. Bevor das Wrack in Flammen aufging, konnten zwei Lastwagenfahrer die Insassen befreien.
Ich humpelte im Schneckentempo über den weiß gekachelten Flur, als die Verletzten eingeliefert wurden. Seit Mitternacht hatte ich wach gelegen, weil Miriam schnarchte wie Max und Moritz im Duett, nachdem sie die Hühner der Witwe Bolte verschlungen hatten. Ich konnte einfach nicht mehr in den Schlaf finden. Bis in die frühen Morgenstunden hinein grübelte ich über die Tücken des Lebens nach, über deren enormes Ausmaß an Infamie. Weshalb sonst hatte es ausgerechnet mich erwischt ... Und noch dazu in einem traumhaft heiteren Sommer wie diesen? Letztes Jahr, als ich noch gesund und munter war, hatte uns das Wetter während der Lachauer Ferienzeit mehr als zehn kühle Regentage beschert. Zugegebenermaßen nicht am Stück, aber immerhin.
Ich dachte an Katja und Leni, und urplötzlich hielten mich keine zehn Pferde mehr in diesem Krankenkabuff. Mit der jämmerlichen Kraft meiner unversehrten Arme schob ich mein Hinterteil auf den Bettrand, und nach einer kleinen Ewigkeit gelang es mir unter Höllenqualen, mich soweit vorzubeugen, dass ich die unkleidsamen, stahlharten Ersatzbeine aus dem Halfter vor dem Bettgestell hieven konnte. Mit deren unentbehrlicher Hilfe stelzte ich mit Ach und ein wenig Krach Richtung Waschbecken, wo ich Tante Agnes' Basiliskenei vom Haken erlöste. Dieses unliebsame Geschenk, ein unförmiger Bademantel aus preußischblauem Frottee, war mir viel zu groß und schlabberte wie ein nasser Sack um meine dünnen Glieder. Ich fühlte mich darin wie „der kleine Muck“. Den Ärmsten hatten allerdings riesige Pantoffeln und kein alberner Morgenrock gehemmt. – Ich vermutete, dass Tante Agnes' Brille in Reparatur war, als sie dieses grauenhafte Monstrum in ihrem Lübecker Lieblingskaufhaus für mich erstand. Das sackartige Gebilde vermummte mich fast bis zur Unkenntlichkeit. Allerleirauh, jenes gute Kind, hatte vermutlich besser gekleidet in ihrer Asche gehockt.
Kaum dass ich die Zimmertür erreicht hatte, verstummte Miriams nerviges Geschnarche, als wollte sie mich zum Bleiben auffordern; aber nachdem nicht viel gefehlt und ich mir sämtliche Glieder verrenkt hätte, einzig und allein um aus den Federn zu kommen, war ich zu allem Möglichen bereit, nur nicht zur Rückkehr ins Bett.
Der Korridor war in nacktes, aber sanftes Neonlicht getaucht und wirkte durch diese Beleuchtung fast gemütlich, kein bisschen steril, wenn man mal von den langweiligen weißen Kacheln absah.
Ich schwang mich in den Aufenthaltsraum neben der Stationstür, ließ mich erschöpft in einen der Sessel am Fenster fallen und starrte gedankenverloren in das geheimnisvolle Zwielicht der Morgendämmerung. Aurora hatte eine scharlachrote Demarkationslinie über die Hausdächer des Viertels gezogen, die die Welt in Himmel und Erde teilte.