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O wehe Stirn! Du Kranke, tief im Flor
der dunklen Brauen! Lächle, werde hell:
die Geigen schimmern einen Regenbogen.
Gottfried Benn, Englisches Café
Oh Kranke, lächle ...
(... aus meinem (Christines) Tagebuch)
Bremen. Allgemeines Krankenhaus Schwachhausen
Station 4, Zimmer 12
10. Juli 1963
Meine Schlafkoje räkelte sich genüsslich in der sonnigsten Fensterecke ganz am Ende des riesigen, voll belegten Krankensaals. Ihm gegenüber verweilte im stets milden Licht der unbeliebte Essplatz für halbwegs Gesunde, die sich gar nicht erst ans Lotterleben im lauschigen Bettchen gewöhnen sollten. Sie hatten sich manierlich um den hohen Buchenholztisch niederzulassen, auf dazu passenden Korbstühlen mit nahezu bergsteilen Lehnen, die das gute Stück flankierten. Während der viel zu seltenen und gnadenlos kurzen Besuchszeiten rückten unsere Verwandten, Freundinnen und Bekannten die unbequemen Sitzmöbel kurzerhand um unsere Betten.
Hinter den mannshohen Scheiben, direkt vor meinen trübsinnigen Augen, flanierte atemlos und mit wilder Entschlossenheit der unerbittliche, pralle Sommer.
In einer mir freundlich gesinnten Stunde, ohne Schmerzen und Juckreizattacken unterm fiesen Gips, verglich ich ihn mit einem Boxhieb, der mich kurz vor dem Ziel aus dem Rennen geschlagen hatte; aber er war weitaus mehr: ein urplötzlich aufgezogenes Unwetter, dessen dickes Ende (Fegefeuer, Reich des Pluto, ewige Finsternis, Vorhölle, Jüngstes Gericht und was sich fantasiebegabte Kirchenfürsten sonst noch alles für die arme Menschheit ausgetüftelt hatten), irgendwo im Äther auf seinen Einsatz gelauert hatte. Ich verfolgte das protziges Treiben des Sommers mit argwöhnischem Interesse und gemischten Gefühlen: Bitterkeit und feindseliger Groll hielten sich dabei die Waage. – Mit anderen Worten: Er schmerzte weitaus heftiger als mein Gipsbein, während er ohne Rücksicht auf Verluste seinen kunterbunten Film abspulte.
Am sechsten Morgen meines Klinikaufenthalts fuhr ich erschrocken aus dem Schlaf. Wilma, unser Spritzenluder, war im Begriff, die Karbolfestung zu stürmen. Die energische, nicht mehr ganz junge Schwester, die wir beim Vornamen nennen durften, hatte die Tür mit solcher Wucht aufgestoßen, dass sie gegen den Schrank geknallt war. Obgleich ich ihr rabiates Weckritual schon fünfmal miterlebt hatte, lief mir auch an diesem Morgen ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Guten Morgen, Kinder! Die Nacht ist vorbei! Ihr habt doch hoffentlich gut geschlafen? Oder etwa nicht?! Jedenfalls müsst ihr jetzt raus aus den Betten, und zwar sofort! Zack! Zack!“, rief Wilma in einem Atemzug. Meine Leidensgenossinnen räkelten sich empört. Sie lagen noch im Halbschlaf, hatten vermutlich kein einziges Wort von Wilmas überfallartigem Redeschwall mitbekommen, und fragten sich, was das gewesen sein könnte. Ein Hurrikan? Eine Kriegserklärung? Ein Trommelfeuer?
„Schwester Wilma“, stöhnte eines der Mädchen, setzte sich auf, verdrehte die Augen und knurrte empört: „Immer diese Hektik mitten in der Nacht. Davon kann man ja richtig krank werden!“ Sie ließ sich zurück aufs Kissen fallen. –
Dann wurde ausgiebig gegähnt. Um die Wette. Ungeniert. Mit weit aufgesperrten Mündern. Wilma hätte keine Mühe gehabt, unsere Zungenbeläge und, soweit noch vorhanden, die Zustände unserer Mandeln zu beschreiben. Ich wusste genau, was danach ablief: Man riskierte einen zweiten Blick und dachte ohne den geringsten Funken von Hoffnung im leidgeprüften Herzen: Wie war das doch gleich? Krankenhaus? – Sommerferien? – Na prima!
Am liebsten hätte man sich umgedreht und weitergeschlafen. Es gab in diesem Sommer nichts zu versäumen; er fand nämlich ohne uns statt. Das Schicksal präsentierte sich gnadenlos von der unbarmherzigsten Seite. Ich schaute nach dem Aufwachen zuallererst an das Fußende meines Bettes. – Also doch kein böser Traum!, seufzte ich jeden Morgen – entmutigt von A bis Z und für den Rest des Tages – kroch voller Selbstmitleid zurück unters Federbett, schloss die Augen und malte mir aus, wie schön das Leben wäre – ohne Gipsbein, mit Katja und Leni, auf Hof Lachau, sofern man laufen konnte.
Bevor uns Wilma an jenem Morgen unsanft die Pulse fühlte, Fieberthermometer verteilte, Kissen aufschüttelte und unseren Blutdruck maß, schob sie hastig die Vorhänge beiseite und ließ die Sonne herein. Augenblicklich, als habe sie hinter den Gardinen gelauert und sich jegliche Kraft für Zimmer Nummer Zwölf, unserem unfreiwilligen Sommercamp, aufgespart, überflutetete sie mit ihrem gleißenden Licht den Raum. (Die Sonne natürlich – von wegen Schwester Wilma.)
Gestern abend hatte es seit langer Zeit mal wieder geregnet. Eine gleichermaßen heftige wie kurze Salve dicker Wassertropfen war gegen das Fenster gepladdert. Ob es in Lübeck auch so gegossen hatte? Ich musste augenblicklich an Hof Lachau denken: an das Getreide auf den riesigen Feldern, den Gemüsegarten, an die Blumen im Park, den Obstbaumgarten und natürlich an alle Bäume und Sträucher im Lachauer Forst und was an diesem märchenhaften Ort während meiner Abwesenheit sonst noch alles spross und gedieh. Statt mich wie in jedem Sommer mit Katja daran zu erfreuen, hatte ich gelangweilt begonnen, die Tropfen zu zählen, die der windgepeitschte Regen gegen das Fenster schlug. Sie waren an der riesigen Scheibe haften geblieben und blitzten im Schein der unverkleideten Neonröhre über der Eingangstür des gegenüberliegenden Restaurants wie echte Türkise.
Der Sommer folgte unbeirrt der Schön-Wetter-Spur auf dem Weg durch die ihm von Petrus bewilligten Stunden – ohne Rücksicht auf unsere Gebrechen. Wir konnten nicht verhindern, dass er seine Fühler nach uns ausstreckte und die warmen Strahlen der Morgensonne behände in jede Zimmerecke stürzen ließ. Der Weg dorthin führte über blutleere Nasen, die wachsbleich aus unseren enttäuschten Gesichtern ragten; Nasen von rebellischen Blinddärmen, komplizierten Brüchen und lebensmüden Mandeln, die ganz ekelhaft gekitzelt wurden und wie auf Kommando zu niesen begannen: Hatschi!
Aber weitaus interessanter als die blassen Spitzen unserer Schnupperzinken waren die weiß lackierten Nachtschränke neben den Betten. Unglaublich, was sich in kurzer Zeit angesammelt und auf der winzigen Oberfläche Platz gefunden hatte: drei weiße Rosen (Augenweide), rosa Nelken (Luftverpester), gelbe Iris (ohne Kommentar), ein Topf mit roten Geranien (Friedhofsgewächse), Schokolade und Pralinen (fast ausschließlich aus Vollmilch), Familienfotos (zum Teil vergilbt), ein Tagebuch (nicht geheim), Ringe aus Gold und Silber (und solche vom Jahrmarkt), Armbanduhren, ein kleiner Teddy, Crèmetöpfe und hellrosa Lippenstifte (der letzte Schrei), Kämme, Mädchenbücher und Krimis, ein Roman für Erwachsene, der "Bel-Ami hieß", und zu guter Letzt ein Mathematikbuch: „Analytische Geometrie und lineare Algebra für die Sekundarstufe II“ stand auf dem Einband. Es gehörte Miriam, die sich nicht etwa bestrafen wollte, sondern einzig und allein eine abgrundtiefe und für uns alle unfassbare Leidenschaft für karthesische Koordinatensysteme hegte.
Wilma fackelte nicht lange. Bummelei