Gefährlicher Sommer (Teil 3)

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

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O wehe Stirn! Du Kranke, tief im Flor
der dunklen Brauen! Lächle, werde hell:
die Geigen schimmern einen Regenbogen.
Gottfried Benn, Englisches Café

Oh Kranke, lächle ...
(... aus meinem (Christines) Tagebuch)

Bremen. Allgemeines Krankenhaus Schwachhausen
Station 4, Zimmer 12
10. Juli 1963
Meine Schlafkoje räkelte sich genüsslich in der son­nigsten Fensterecke ganz am Ende des riesi­gen, voll beleg­ten Krankensaals. Ihm gegen­über verweilte im stets milden Licht der unbeliebte Essplatz für halbwegs Gesun­de, die sich gar nicht erst ans Lotter­leben im lauschi­gen Bettchen gewöhnen sollten. Sie hatten sich manier­lich um den hohen Buchenholztisch niederzu­lassen, auf dazu passenden Korbstühlen mit nahezu bergsteilen Leh­nen, die das gute Stück flankierten. Während der viel zu sel­tenen und gnadenlos kurzen Besuchszeiten rückten unsere Ver­wandten, Freundinnen und Bekann­ten die un­bequemen Sitzmöbel kurzerhand um unsere Betten.
Hinter den mannshohen Scheiben, direkt vor meinen trübsinnigen Augen, flanierte atemlos und mit wilder Entschlossenheit der unerbittliche, pralle Sommer.
In einer mir freundlich gesinnten Stunde, ohne Schmerzen und Juckreizat­tacken unterm fiesen Gips, verglich ich ihn mit einem Boxhieb, der mich kurz vor dem Ziel aus dem Rennen geschlagen hatte; aber er war weitaus mehr: ein urplötzlich aufgezogenes Unwetter, dessen dickes Ende (Fegefeuer, Reich des Pluto, ewige Finsternis, Vorhölle, Jüngstes Gericht und was sich fantasie­begabte Kirchenfürsten sonst noch alles für die arme Menschheit ausgetüftelt hatten), irgendwo im Äther auf seinen Einsatz gelauert hatte. Ich verfolgte das protziges Treiben des Sommers mit argwöhnischem Interesse und gemisch­ten Ge­fühlen: Bitterkeit und feindseliger Groll hielten sich dabei die Waage. – Mit anderen Worten: Er schmerzte weitaus heftiger als mein Gipsbein, während er ohne Rücksicht auf Verluste seinen kunterbunten Film abspulte.

Am sechsten Morgen meines Klinikaufenthalts fuhr ich er­schrocken aus dem Schlaf. Wilma, unser Spritzenluder, war im Begriff, die Karbol­festung zu stürmen. Die energische, nicht mehr ganz junge Schwester, die wir beim Vornamen nennen durften, hatte die Tür mit solcher Wucht aufge­stoßen, dass sie gegen den Schrank ge­knallt war. Obgleich ich ihr rabiates Weckritual schon fünfmal miterlebt hatte, lief mir auch an diesem Morgen ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Guten Morgen, Kinder! Die Nacht ist vorbei! Ihr habt doch hoffentlich gut geschlafen? Oder etwa nicht?! Jedenfalls müsst ihr jetzt raus aus den Betten, und zwar so­fort! Zack! Zack!“, rief Wilma in einem Atemzug. Meine Leidensge­nossinnen räkelten sich empört. Sie lagen noch im Halb­schlaf, hatten vermut­lich kein ein­ziges Wort von Wilmas überfallartigem Redeschwall mitbe­kommen, und frag­ten sich, was das gewesen sein könnte. Ein Hurrikan? Eine Kriegser­klärung? Ein Trommel­feuer?
„Schwester Wilma“, stöhnte eines der Mäd­chen, setzte sich auf, ver­drehte die Augen und knurrte empört: „Immer diese Hektik mitten in der Nacht. Davon kann man ja richtig krank werden!“ Sie ließ sich zu­rück aufs Kissen fallen. –
Dann wurde ausgiebig gegähnt. Um die Wette. Ungeniert. Mit weit auf­gesperrten Mündern. Wilma hätte keine Mühe gehabt, unsere Zungen­beläge und, soweit noch vor­handen, die Zustän­de unserer Mandeln zu beschrei­ben. Ich wusste genau, was danach ab­lief: Man riskierte einen zweiten Blick und dach­te ohne den gering­sten Fun­ken von Hoffnung im leid­geprüften Herzen: Wie war das doch gleich? Kranken­haus? – Som­merferien? – Na prima!
Am liebsten hätte man sich umge­dreht und weiterge­schlafen. Es gab in diesem Sommer nichts zu ver­säumen; er fand näm­lich ohne uns statt. Das Schicksal präsentierte sich gna­denlos von der unbarmher­zigsten Seite. Ich schaute nach dem Auf­wachen zu­allererst an das Fußende meines Bettes. – Also doch kein böser Traum!, seufzte ich jeden Morgen – ent­mutigt von A bis Z und für den Rest des Tages – kroch voller Selbstmitleid zurück unters Federbett, schloss die Augen und malte mir aus, wie schön das Leben wäre – ohne Gipsbein, mit Katja und Leni, auf Hof Lachau, sofern man laufen konnte.

Bevor uns Wilma an jenem Morgen unsanft die Pulse fühlte, Fieberther­mometer verteilte, Kissen aufschüttelte und unseren Blutdruck maß, schob sie hastig die Vor­hänge beiseite und ließ die Sonne herein. Augenblicklich, als habe sie hinter den Gar­dinen ge­lauert und sich jeg­liche Kraft für Zimmer Nummer Zwölf, unserem un­freiwilligen Sommercamp, aufgespart, überflutetete sie mit ihrem gleißenden Licht den Raum. (Die Sonne natürlich – von wegen Schwester Wilma.)
Gestern abend hatte es seit langer Zeit mal wieder gereg­net. Eine gleichermaßen hef­tige wie kurze Salve dicker Wassertropfen war gegen das Fenster gepladdert. Ob es in Lübeck auch so gegossen hatte? Ich musste augenblicklich an Hof Lachau denken: an das Getreide auf den riesigen Fel­dern, den Ge­müsegarten, an die Blumen im Park, den Obstbaumgarten und na­türlich an alle Bäume und Sträucher im Lachauer Forst und was an diesem märchen­haften Ort während meiner Ab­wesenheit sonst noch alles spross und gedieh. Statt mich wie in jedem Sommer mit Katja daran zu erfreuen, hatte ich gelangweilt begonnen, die Tropfen zu zählen, die der windgepeitschte Regen gegen das Fenster schlug. Sie waren an der riesigen Scheibe haften ge­blieben und blitzten im Schein der unverkleideten Neonröhre über der Eingangstür des ge­genüberliegenden Restaurants wie echte Türkise.
Der Sommer folgte unbeirrt der Schön-Wetter-Spur auf dem Weg durch die ihm von Petrus bewilligten Stunden – ohne Rücksicht auf unsere Gebrechen. Wir konnten nicht verhindern, dass er seine Fühler nach uns ausstreckte und die warmen Strahlen der Mor­gensonne behän­de in jede Zim­merecke stürzen ließ. Der Weg dorthin führte über blutleere Nasen, die wachs­bleich aus unseren ent­täuschten Gesichtern rag­ten; Nasen von rebel­lischen Blinddär­men, komplizier­ten Brüchen und lebens­müden Man­deln, die ganz ekelhaft ge­kitzelt wurden und wie auf Kom­mando zu niesen be­gannen: Hatschi!
Aber weitaus interessanter als die blassen Spitzen unserer Schnupperzin­ken waren die weiß lackierten Nacht­schränke neben den Betten. Unglaub­lich, was sich in kurzer Zeit angesam­melt und auf der win­zigen Oberfläche Platz gefun­den hatte: drei weiße Ro­sen (Augenweide), rosa Nelken (Luftverpester), gel­be Iris (ohne Kommentar), ein Topf mit roten Geranien (Friedhofsgewächse), Scho­kolade und Pra­linen (fast aus­schließlich aus Voll­milch), Familien­fotos (zum Teil vergilbt), ein Tage­buch (nicht geheim), Ringe aus Gold und Silber (und solche vom Jahr­markt), Arm­banduhren, ein kleiner Teddy, Crème­töpfe und hellrosa Lippen­stifte (der letzte Schrei), Kämme, Mädchenbücher und Krimis, ein Roman für Er­wachsene, der "Bel-Ami hieß", und zu guter Letzt ein Mathematikbuch: „Analytische Geo­metrie und lineare Algebra für die Sekun­darstufe II“ stand auf dem Ein­band. Es gehör­te Miriam, die sich nicht etwa be­strafen wollte, son­dern einzig und allein eine abgrund­tiefe und für uns alle unfass­bare Leidenschaft für karthe­sische Koordi­natensysteme hegte.
Wilma fackelte nicht lange. Bummelei

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