„Bitt’schön, nach Ihnen“
Mit einer einladenden Handbewegung, so vermeint er jedenfalls, wendet sich Albatros Vormals an die neben ihm wartende Person, die allerdings, wie er selbst übrigens auch, nicht als Person im eigentlichen Sinne, sondern eher als ein Wesen aus Stimme und Gefühl zu begreifen ist.
Aus irdischer Sicht wäre man fast geneigt, ‚nur’ zu sagen. Doch das träfe es nicht, wie der Fortgang der Geschichte noch erkennen lassen soll.
Die so angesprochene Person jedenfalls, gefühlsmäßig eine Dame, was hier aber nicht von Bedeutung ist, und deshalb auch keine Rolle spielt, dankt, gleitet auf eine vorüber ziehende Wolke und aus dem Wahrnehmungsbereich von Ali Vormals, der sich wieder eigenen gedanklichen Reflexionen überlässt.
Erst ein Augenblick scheint vergangen, seit er unter Umständen, die nachzuvollziehen er kein Interesse verspürt, seine irdische Existenz aufgab.
Er erinnert sich:
„Auch du, mein Sohn?“ war da eine Stimme, die von überall und nirgends auf ihn einzuwirken schien.
„Ja,“ hatte er erwidert und fast, wie unter dem Eindruck einer tiefen, unausgesprochenen Religiosität, die ihm an sich fremd war, ‚Vater’ gesagt.
Doch schnell gewann seine weltliche, auf Höflichkeit und gute Umgangsformen abgestimmte Erziehung die Oberhand, und er fügte beflissen hinzu:
„Albatros Vormals, kaufmännischer Angestellter.“
„Hihihi – hoho!“ schien es in den Wolkenkulissen zu wispern und zu flüstern…
Nun, Ali Vormals hatte sich an diese und ähnliche Reaktionen ein Erdenleben lang gewöhnen können, beginnend mit der Schule und nicht enden wollend in seinen verschiedenen Anstellungen im Großhandelshandelsbereich.
„Albatros, komm´ doch bitte mal an die Tafel“, überfällt ihn wieder die Erinnerung an frühe Jahre in der Schule.
Und während er pflichtbewußt zur aufgeklappten Tafel strebt, blättert der Lehrer in einem Fachbuch, und der Rest der Klasse übt sich in weit ausholenden Flugbewegungen.
„Jau, Jau, ming Dschung, so war dat wohl“, hatte ihn dann sein Großvater väterlicherseits aufgeklärt,„dinge Großonkel Ferdinand, ‚Ferdi Vormals, mi’m groß’n F unnen groß’n V, hatta ümma buchssstabiert. Minge Broder, also…“
Und dann nahm er die kalte Pfeife mit dem geschnitzten Meerschaumkopf aus dem Mund und bemühte sich mit einem Restbestand an Zähnen, ein dem Enkel verständliches Hochdeutsch zu formulieren.
Der erfuhr schließlich an langen Winterabenden, daß der Großonkel Ferdinand Seemann, lange Zeit sogar Handelsschiffskapitän gewesen war und sich schließlich mit einem beträchtlichen Vermögen und unverheiratet in Hamburg-Blankenese zur Ruhe gesetzt hatte.
„Denn so’n ollen Seebär, der läuft kein’n Ehehafen nich’ mehr an…“, verkündete der Großvater und zog genüßlich an der kalten Pfeife.
Und weil unter diesen Umständen Mutmaßungen und Bemühungen Ferdinands Vermögen betreffend, seitens der Verwandtschaft durchaus verständlich und auch angebracht waren, beschloß „…minge Sohn in höchst eigener Machtvollkommenheit“, wie der Großvater auf
Wortstelzen betonte, den erstgeborenen Sohn nach des Onkels erstem eigenen Schiff ALBATROS zu benennen.
Kein Standesbeamter schritt ein:
Und als Onkel Ferdinand plötzlich und unerwartet das Zeitliche segnete, stellte sich heraus, daß er schon Jahre vor der Geburt des Großneffen ein handschriftliches Testament verfasst hatte, gemäß dem er sein Gesamtvermögen einer Stiftung vermachte, die Seeleute und Hinterbliebene in aller Welt unterstützt.
Spätere Versuche, Albatros mit einem etwas schlichteren Vornamen, zum Beispiel ‚Albertus’, auszustatten, wurden bald durch allzu hohe Änderungsgebühren – und vielleicht auch angesichts eines zu erwartendes ‚himmlischen Gelächters’ – im Keime erstickt.
Und so widerfuhr es auch dem inzwischen erwachsenen und sich an seinen außergewöhnlichen Vornamen längst gewöhnt habenden Sachbearbeiter der Fa. Nonsens GmbH & Co KG nicht selten, daß seine telefonische Begrüßung „Guten Tag, Vormals, Nonsens, GmbH & Co KG, mit der Frage gekontert wurde, “Und wie nennt sich Ihre Firma jetzt?“
„Albatros Vormals, Sachbearbeiter für außereuropäische Länder, Fa. Nonsens GmbH & Co KG“
pflegte er dann genüsslich und im Vollbesitz eines herzerwärmenden Humors zu erläutern.
Dies also sind die Gedanken, die leicht und luftig die Lichtgestalt des Ali Vormals durchwehen, der da am Ufer der Unendlichkeit steht und auf eine Wolke wartet, die ihn hinüberträgt.
Unter dem Einfluß dieser Erinnerungen gewinnt er fast seinen irdischen Habitus zurück, fühlt nahende Erdenschwere, schwingt sich dann jedoch in schnellem Entschluß auf eine vorübereilende Wolke und wird von ihr davon getragen.
Sanft gleitet er durch Zeit und Raum, befreit vom Zwange des Denkens und immer mehr in Gefühl sich auflösend.
Unmerklich erst, aber bald spürbar, wird er sich allerdings einer Empfindung bewusst, die offenbar im Gegensatz zu seinem Sehnen nach einer nicht näher definierbaren Vollkommenheit steht.
Als ob sich da sanft aber entschieden eine Kraft aufbaut, die ihn bremst und mit eintretender Verlangsamung nach unten zieht.
Wieder ist da dieses Gefühl zunehmender Schwere, und bald erkennt Ali auch den Grund für die bedrückende Veränderung:
Tatsächlich schrumpft seine Wolke zusehends, während gleichzeitig sein Eigengewicht spürbar zunimmt.
Noch mehr verwirrt ihn allerdings die Feststellung, daß sich das höhere Gewicht zwar nicht in zunehmender Körperhaftigkeit ausdrückt, gleichwohl aber mit einem Gefühl von innerer Leere, die sich allmählich mit etwas ausfüllt, das er kennt, aber nicht anstrebt, verbunden ist.
Immer heftiger wird die Abwärtsbewegung, geht schließlich in freien Fall über und endet jäh – in Schmerzempfinden.
Das ist es, das Gefühl, das er kennt.
Er ist wieder – bei sich!
Das kleine Appartement in der zweiten Etage, Würfelstraße 58.
Er ist mit der Stirn auf das Frühstücksbrett gefallen, unglücklicherweise auf die Kante des Messergriffs, was besonders an dieser Stelle, oberhalb des Nasenrückens sehr schmerzhaft ist.
Noch benommen vom Fall öffnet er die Augen und hebt den Kopf.
Sein Blick fällt auf eine halb mit Margarine bestrichene Graubrotscheibe – auf Butter verzichtet er schon länger aus Gesundheitsgründen – und eine volle Tasse Tee.
Dahinter, unübersehbar und laut tickend, der Wecker. Es ist acht Uhr und fünfunddreißig Minuten. Nicht mehr und nicht weniger.
Und es ist nicht etwa Samstag oder Sonntag oder sonst ein Feiertag, das weiß Albatros Vormals,
Sachbearbeiter für außereuropäische Firmen bei Nonsens GmbH & Co KG, ganz genau: Weil er an solchen Tagen nie vor zehn Uhr dreißig aufsteht.
Es ist also…
Richtig, es ist Donnerstag. Denn auf dem Tisch, neben der Margarine, liegt aufgeschlagen die Programmzeitschrift. Und sein Dienst hat bereits um acht Uhr begonnen.
Um sieben Uhr und zwölf Minuten hätte er den Bus erreich müssen, um die Arbeit pünktlich aufzunehmen.
Und da ist auch das andere Gefühl, das er kennt: Pflichterfüllung!
Wie eine riesige Woge kalten Wassers schlägt es über ihm zusammen, erdrückt, vernichtet ihn.
Hart fällt der Kopf auf das Frühstücksbrett, wieder auf den Messergriff. Doch den Schmerz spürt er nicht mehr.
„Du, mein Sohn, wieder einmal?“
Die Stimme, die von überall und nirgends auf ihn einzuwirken scheint, entkleidet ihn aller seiner Sorgen.
„Ja, – Vater“, sagt Albatros leise und nimmt sich diesmal vor, die angeborene Höflichkeit in verträglichen Grenzen zu halten…