Der Weihnachtsabend (auch eine Weihnachtsgeschichte) - Page 19

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oft, das [89] sei nicht ehrlich und wirklich war es das auch nicht. Aber endlich hatte er sie gefunden und trotz ihres Sträubens sperrte er sie in eine Ecke, wo keine Flucht möglich war; und da wurde seine Aufführung ganz abscheulich. Denn sein Vorgeben, er kenne sie nicht: er müsse ihren Kopfputz anfassen und um sie zu erkennen, einen gewissen Ring auf ihrem Finger und eine gewisse Kette um ihren Hals befühlen, war ganz, ganz abscheulich! Und gewiß sagte sie ihm auch ihre Meinung darüber, denn als ein anderer Blinder an der Reihe war, waren sie hinter den Gardinen sehr vertraut mit einander.

Scrooge’s Nichte nahm nicht mit an dem Blindekuhspiele Theil, sondern saß gemüthlich in einer traulichen Ecke in einem Lehnstuhle mit einem Fußbänkchen, und der Geist und Scrooge standen dicht hinter ihr. Aber Pfänder spielte sie mit und liebte ihre Liebe mit allen Buchstaben des Alphabets zur Bewunderung. Auch in dem Spiele, Wie, Wenn und Wo, war sie sehr stark und stellte zur geheimen Freude von Scrooge’s Neffen ihre Schwestern gar sehr in Schatten, obgleich sie auch ganz gescheidte Mädchen waren, wie uns Topper hätte sagen können. Es mochten ungefähr zwanzig Personen da sein, junge und alte, aber sie spielten Alle und auch Scrooge spielte mit; denn in seiner Theilnahme an dem Geschehenen ganz vergessend, daß ihnen seine Stimme nicht hörbar war, sagte er oft seine Antwort auf die Fragen ganz laut und rieth auch oft ganz richtig.

[90] Dem Geiste gefiel es sehr, ihn in dieser Laune zu sehen und er blickte ihn so freundlich an, daß Scrooge wie ein Knabe ihn bat, noch warten zu dürfen, bis die Gäste fortgingen. Aber der Geist sagte, dies könne nicht geschehen!

„Es fängt ein neues Spiel an,“ sagte Scrooge. „Nur eine einzige halbe Stunde, Geist.“

Es war ein Spiel, was man Ja und Nein nennt, wo Scrooge’s Neffe sich etwas zu denken hatte und die Anderen errathen mußten: was; auf ihre Fragen brauchte er blos mit Ja oder Nein zu antworten. Die schnell auf einander folgenden Fragen, die ihm vorgelegt wurden, stellten heraus, daß er sich ein Thier dachte, ein lebendiges Thier, ein häßliches Thier, ein wildes Thier, ein Thier, das zuweilen brummte und zuweilen sprach und in London sich aufhielt und in den Straßen herumlief und nicht für Geld gezeigt und nicht herumgeführt würde und nicht in einer Menagerie sei und nicht geschlachtet werde und weder ein Pferd, noch ein Esel, noch eine Kuh, noch ein Ochs, noch ein Tiger, noch ein Hund, noch ein Schwein, noch eine Katze, noch ein Bär sei. Bei jeder neuen Frage, die ihm gestellt wurde, brach Scrooge’s Neffe von Neuem in ein Gelächter aus und konnte gar nicht wieder heraus kommen, so daß er vom Sopha aufstehen und mit den Füßen stampfen mußte. Endlich rief die dicke Schwester mit einem eben so unauslöschlichen Gelächter:

„Ich habe es, ich weiß es, Fritz, ich weiß es.“

[91] „Was ist es?“ rief Fritz.

„Es ist Onkel Scrooge.“

Und der war es auch. Bewunderung war das allgemeine Gefühl, obgleich Einige meinten, die Frage: Ist es ein Bär? hätte müssen mit Ja beantwortet werden, denn eine verneinende Antwort sei schon hinreichend gewesen, ihre Gedanken von Scrooge abzubringen, selbst wenn sie auf dem Wege zu ihm gewesen wären.

„Nun, er hat uns Freude genug gemacht,“ sagte Fritz, „und so wäre es undankbar, nicht seine Gesundheit zu trinken. Hier ist ein Glas Glühwein dazu bereit. Es lebe Onkel Scrooge!“

„Es lebe Onkel Scrooge!“ riefen sie Alle.

„Eine fröhliche Weihnacht und ein glückliches Neujahr dem Alten, wie er immer sein möge!“ sagte Scrooge’s Neffe. „Er wollte den Wunsch nicht von mir annehmen, aber er soll ihn doch haben.“

Onkel Scrooge war unmerklich so fröhlich und leichtherzig geworden, daß er der von seiner Gegenwart nichts wissenden Gesellschaft ihren Toast erwiedert und ihr mit einer unhörbaren Rede gedankt haben würde, wenn der Geist ihm Zeit gelassen hätte. Aber Alles verschwand in dem Hauche von dem letzten Worte des Neffen; und er und der Geist waren wieder unterwegs. Sie gingen weit und sahen viel und besuchten manchen Heerd, aber immer spendeten sie Glück. Der Geist stand neben Kranken, und sie wurden heiter und hoffend; neben Wandernden in fernen [92] Ländern und sie träumten von der Heimath; neben solchen, die mit dem Leben rangen, und sie harrten geduldig aus; neben Armen, und sie waren reich. Im Armenhause und im Lazarethe, im Kerker und in jedem Zufluchtsorte des Jammers, wo der Mensch in seiner kurzen ärmlichen Herrschaft dem Geiste die Thür verschlossen hatte, spendete er seinen Segen und lehrte Scrooge seine Weise.

Es war eine lange Nacht, wenn es nur eine Nacht war; aber Scrooge zweifelte daran, denn die Weihnachtsfeiertage schienen in die Zeit, die sie mit einander zubrachten, zusammengedrängt zu sein. Es war auch sonderbar, daß während Scrooge äußerlich ganz unverändert blieb, der Geist offenbar älter wurde. Scrooge hatte diese Veränderung bemerkt, aber sprach nie davon, bis sie von einer Kinderweihnachtsgesellschaft weggingen, wo er bemerkte, daß des Geistes Haar grau geworden war.

„Ist das Leben der Geister so kurz?“ fragte Scrooge.

„Mein Leben auf dieser Erde ist sehr kurz,“ sagte der Geist, „es endet noch diese Nacht.“

„Diese Nacht noch!“ rief Scrooge.

„Heute um Mitternacht. Horch, die Zeit nahet.“

Die Glocke schlug drei Viertel auf zwölf.

„Vergieb mir, wenn ich nicht Recht thue, zu fragen,“ sagte jetzt Scrooge, scharf auf des Geistes Gewand blickend, „aber ich sehe etwas Seltsames, was nicht zu Dir gehört, unter Deinem Mantel hervorblicken. Ist es ein Fuß oder eine Klaue?“

[93] „Nach dem wenigen Fleisch, was darauf ist, könnte es wohl eine Klaue sein,“ gab der Geist traurig zur Antwort.

„Sieh hier.“

Aus den weiten Falten seines Gewandes hervor erschienen jetzt zwei Kinder, elend, abgemagert, häßlich und jammererregend. Sie knieten vor ihm nieder und hielten sich fest an den Saum seines Gewandes.

„O, Mensch, sieh hier. Sieh hier, sieh hier!“ rief der Geist.

Es war ein Knabe und ein Mädchen. Gelb, elend, zerlumpt und mit wildem, tückischem Blick; aber doch demüthig. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte füllen und mit ihren frischesten Farben kleiden sollen, hatte eine runzliche, abgelebte Hand, gleich der des Alters, sie berührt und versehrt. Wo Engel hätten

A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (wörtlich Ein Weihnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest, deutsch meist Eine Weihnachtsgeschichte) ist eine der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens. Sie wurde im Dezember 1843 mit Illustrationen von John Leech erstmals veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Der Weihnachtsabend. J. J. Weber, 1844

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