Der Weihnachtsabend (auch eine Weihnachtsgeschichte) - Page 22

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Mrs. Dilber lachend.

„Wenn er sie, wie ein alter Geizhals, noch nach dem Tode behalten wollte,“ fuhr die Frau fort, „warum war er während seines Lebens nicht besser? Wenn er’s gewesen wäre, würde Jemand um ihn gewesen sein, als er starb, statt daß er allein seinen letzten Athem fahren lassen mußte.“

„Es ist das wahrste Wort, was je gesprochen worden,“ sagte Mrs. Dilber.

„Es ist ein Gottesgericht.“

„Ich wollte, es wäre ein Bischen schwerer ausgefallen,“ [104] sagte die Frau; „und wär’s auch, verlaßt Euch d’rauf, wenn ich mehr hätte kriegen können. Mache das Bündel auf, Joe, und sag mir, was es werth ist. Sprich gerade heraus. Ich fürchte mich nicht, die Erste zu sein, noch es ihnen sehen zu lassen. Wir wußten gut genug, daß wir für uns sorgten, ehe wir uns hier trafen. ’S ist keine Sünde. Mach’ das Bündel auf, Joe.“

Aber die Galanterie ihrer Freunde wollte das nicht erlauben; und der Mann in dem abgetragenen schwarzen Rock brachte seine Beute zuerst. Es war nicht viel daran. Ein oder zwei Siegel, ein silberner Bleistift, ein Paar Hemdknöpfe und eine Broche von geringem Werthe, war Alles. Sie wurden von dem alten Joe untersucht und abgeschätzt, worauf er die Summe, welche er für Jedes bezahlen wollte, an die Wand schrieb und zusammenrechnete, wie er fand, daß nichts mehr kam.

„Das ist Eure Rechnung,“ sagte Joe, „und ich gebe keinen Sixpence mehr, und wenn ich in Stücke gehauen werden sollte. Wer kommt jetzt?“

Mrs. Dilber war die Nächste. Sie hatte Bett- und Handtücher, einige Kleidungsstücke, zwei altmodische silberne Theelöffel, eine Zuckerzange und einige Paar Stiefel. Ihre Rechnung wurde auf dieselbe Weise an die Wand geschrieben.

„Damen gebe ich immer zu viel. ’S ist meine Schwäche und ich richte mich damit zu Grunde,“ sagte der alte Joe. „Das ist Eure Rechnung. Wenn Ihr einen Pfennig mehr haben wolltet und ließet es darauf ankommen, so thäte es mir [105] leid, so freigebig gewesen zu sein und ich zöge eine halbe Krone ab.“

„Und nun mach’ mein Bündel auf, Joe,“ sagte die Erste.

Joe kniete nieder, um bequemer das Bündel öffnen zu können, und nachdem er eine große Menge Knoten aufgemacht hatte, zog er eine große und schwere Rolle eines dunklen Zeugs heraus.

„Was ist das?“ sagte Joe. „Bettgardinen.“

„Ach,“ rief das Weib lachend und sich vorbeugend. „Bettgardinen!“

„Ihr wollt doch nicht sagen, Ihr hättet sie ’runter genommen, wie er dort lag?“ sagte Joe.

„Ih, freilich,“ sagte das Weib. „Warum nicht?“

„Ihr seid geboren, Euer Glück zu machen, und Ihr werdet’s auch.“

„Ich werde doch wahrhaftig meine Hand nicht ruhig einstecken, wenn ich sie nur auszustrecken brauche, um was zu kriegen, um so eines Mannes willen, wie der war. Wahrhaftig nicht, Joe,“ antwortete das Weib ruhig. „Laßt kein Oel auf die Bettdecken fallen.“

„Seine Bettdecke?“ fragte Joe.

„Von wem soll sie denn sonst sein?“ antwortete das Weib. „Er wird auch ohne dies nicht frieren, das behaupte ich.“

„Er starb doch nicht etwa an etwas Ansteckendem?“ sagte der alte Joe, seine Beschäftigung unterbrechend und sie anblickend.

[106] „Das braucht Ihr nicht zu befürchten,“ antwortete die Frau. „Ich hatte ihn nicht so lieb, daß ich dann bei ihm geblieben wäre um solcher Sachen willen. Ha, Ihr könnt durch das Hemd gucken, bis Euch Eure Augen weh thun; Ihr findet kein Loch drin und keine dünne Stelle. Es ist das beste, was er hatte, und fein ist’s auch. Sie hätten’s verdorben, wenn ich nicht gewesen wäre.“

„Was nennt Ihr, es verderben?“ fragte der alte Joe.

„Nun, ihm das Hemd in das Grab anziehen, was sonst?“ erwiederte die Frau lachend.

„Es war Jemand Narr genug, es ihm anzuziehen, aber ich zog’s ihm wieder aus. Wenn Kattun zu so etwas nicht gut genug ist, weiß ich nicht, zu was er sonst gut wäre. Es steht einer Leiche eben so gut. Er kann nicht häßlicher aussehen, als er in dem aussah.“

Scrooge hörte das Gespräch mit Grausen an. Wie sie da um ihren Raub herum in dem kärglichen Licht der Lampe des Alten saßen, betrachtete er sie mit einem Ekel und einem Abscheu, der nicht größer hätte sein können, wenn es scheußliche Dämonen gewesen wären, die um die Leiche selbst feilschten.

„Ha, ha!“ lachte dieselbe Frau, als der alte Joe, einen alten flanellenen Geldbeutel herauslangend, Jedem den Preis des Raubes auf den Fußboden hinzählte. „Das ist das Ende von der Geschichte, seht Ihr! Er scheuchte Jeden von sich, so lange er lebte, um uns zu nützen, da er todt ist! Ha ha ha!“

„Geist,“ sagte Scrooge, vom Fuß bis zum Scheitel [107] zitternd. „Ich verstehe Dich. Das Loos dieses Unglücklichen könnte das meinige sein. Mein Leben geht jetzt auf dieses Ziel zu. Gnädiger Himmel, was ist das?“

Er fuhr entsetzt zurück, denn die Scene hatte sich geändert und er stand dicht vor einem Bett, einem einsamen, unverhangnen Bett, wo unter einer groben Decke etwas Verhülltes lag, was, obgleich es stumm war, sich doch in Grausen erregender Sprache nannte.

Das Zimmer war sehr finster, zu finster, um etwas genau erkennen zu können, obgleich Scrooge, einem geheimen Gefühle gehorchend, sich umschaute, voll Begier, zu wissen, was für ein Zimmer es sei. Ein bleiches Licht, welches von draußen kam, fiel gerade auf das Bett; und auf diesem, geplündert und beraubt, unbewacht und unbeweint, lag die Leiche dieses Mannes.

Scrooge blickte die Erscheinung an. Ihre reglose Hand wies auf das Haupt des Leichnams. Die Decke war so sorglos zurecht gelegt, daß das geringste Verschieben, die leiseste Berührung von Scrooge’s Finger das Antlitz enthüllt hätte. Er dachte daran, fühlte, wie leicht es geschehen könnte, und sehnte sich, es zu thun; aber er hatte nicht mehr Macht, die Hülle wegzuziehen, als den Geist an seiner Seite zu entlassen.

O, kalter, starrer, schrecklicher Tod, hier richte Deinen Altar auf und umgieb ihn mit den Schrecken, die Dir zu Gebote stehen: denn dies ist Dein Reich! Aber dem geliebten und verehrten Haupt kannst Du kein Haar krümmen, von [108] ihm kannst Du keinen Zug widerlich machen. Nicht, weil die Hand schwer ist und herabsinkt, wenn man sie fallen läßt, nicht, weil das Herz und der Puls schweigen; sondern weil die Hand offen war und barmherzig, weil das Herz offen war und warm und gut und der Puls ein

A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (wörtlich Ein Weihnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest, deutsch meist Eine Weihnachtsgeschichte) ist eine der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens. Sie wurde im Dezember 1843 mit Illustrationen von John Leech erstmals veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Der Weihnachtsabend. J. J. Weber, 1844

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